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■ NormalzeitEin Obdachlosenroman

Männer werden aufgrund fehlender „Doppelbelastung“ und „Triple Opression“ eher obdachlos. Deswegen stellen die Frauen nur 15 Prozent dieser wachsenden Bevölkerungsgruppe. Neugieriger auf Überlebenskunst, stellen Frauen dagegen 80 Prozent der nicht obdachlosen Käufer der drei Berliner Penner-Periodika (platte, haz und mob). Die postmodern-urbane Variante des uralten Dorf-Reflexes auf alle sich nähernden Nichtseßhaften: Die Frauen schmieren Butterbrote, und die Männer holen die Bullen bzw. spielen Hilfssheriff. Auch paßt zusammen, daß einerseits die meisten Männer obdachlos werden, weil ihre Frauen sie aus der Wohnung schmeißen bzw. die Gerichte eher Frauen das Dach überm Kopf zusprechen. Und andererseits die verbreitetste Zeitung in der „Obdachlosen-Scene“ die Praline ist.

Die sicher berühmteste obdachlose Frau ist „Tüten-Paula“ vom Ku'damm. Obwohl sie mit niemandem redet, schon gar nicht mit Hauptstadt-Journalisten, rangiert sie gleich hinter Harald Juhnke, sie ist quasi die Brigitte Mira unter den Pennerinnen. Die Kinderbuchautorin und Ku'dammschriftstellerin schlesischer Herkunft, Leonie Ossowski, hat über sie unter dem Namen „Tüten-Lady Dora Botag“ eine Kudamm-Geschichte geschrieben: „Die Maklerin“. Textprobe: „Sie begriff schnell, daß es immer die Frauen waren, die die Häuser kauften, während mit den Männern die Finanzierung auszuhandeln war.“

Fast alles Nichtjüdische kommt darin vor: die Nazis, das Baltikum, die Vertreibung aus dem Warthegau, die Ermordung von Polen, Neonazis, linke Ku'damm-Demonstrationen, Ku'damm-Immobilienmaklereien, die Pauke von Wolfgang Neuss, die Senatsverwaltung für das Bau- und Wohnungswesen, der Pantomime vorm Café Kranzler, der 9. November 89 auf dem Ku'damm, bezahlte Ku'damm-Schlägertrupps, die guten Türken der zweiten Generation im Verein mit weißen Tauben, die verkorkste Erziehung der Neureichen, die Maßlosigkeit der Kinder bei der Nachentnazifizierung ihrer Eltern, ein „Big Mac“ bei McDonald's, Reisen im IC, die Strafe für rücksichtslosen Erfolg, Jil-Sander-Kostüme und darauffolgend das Glück in der Demut – schlußendlich. An Erotik bietet die in Wilmersdorfer Witwen-Versammlungen leseobergeschulte Niederschlesierin den Guten-Onkel-Fick nach Hamsterfahrt, den allzu späten, aber rabiaten Zeugungsbeischlaf (gleich zweimal), den erpresserischen Karrierefick mit Belehrung im Kempinski (auch für den Nichtberliner: „der Bauboom hatte in Berlin gerade erst begonnen“), und zuletzt noch: den dominanten Spontanfick mit dem Jeans-und-Turnschuh-Künstler im Anschluß an die Paris-Bar. – Das ist aber noch nicht alles: Leonie Ossowski kennt natürlich die Gegend um den Ku'damm rum in- und auswendig, viele Male hat sie auf Spaziergängen „Tüten-Paula“ beobachtet und sich dabei so ihre Gedanken um den Inhalt ihrer vielen blauen Plastiktüten gemacht. Vielleicht haben sogar der „Kontaktbereichsbeamte“ sowie der Geschäftsführer der Bewag- Beratungsstelle an der Ecke Grolmanstraße/Ku'damm einiges Wertvolle beigesteuert. Die Springer-Presse, die so oft über Tüten-Paula gar nichts zu berichten wußte, wird als „zweifelhaft“ charakterisiert, die Weisheit ihrer Journalisten – „Skins machen sich nicht über Obdachlose her. Haben Sie vielleicht Feinde?“ – von der Autorin jedoch mit Löffeln gefressen.

Fazit: Dies ist eher ein Schmöker für Heimatvertriebene als für Obdachlose. Und wie man eine Karriere als Maklerin macht, erfährt nicht einmal die geneigteste Leserin mit Berlin-Kenntnissen. Helmut Höge

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