■ Normalzeit: Die Probierbewegung von Petzow
Bisher kannte ich nur das Petzower Schloß samt Park, das einst dem FDGB gehörte und dann ein pompöses Manager-Schulungszentrum werden sollte, jetzt besitzt es ein Hotelbetreiber-Ehepaar vom Tegernsee. Daneben gibt es dort aber noch ein Wandertheater, das der Kreuzberger Ingenieur Manfred Rühl betreibt: mit Stücken wie „Leben heißt Leben im Unterstand“ und „Probierbewegungen“ – von Artur Richter.
Der 1951 geborene Ingenieur Rühl ist daneben noch Herausgeber des Copyjournals „Nachrichter“, das Artur Richters Leben und Gesamtwerk gewidmet ist. Der 1895 geborene Richter war Bankbeamter und wurde 1915 trotz einer Selbstverstümmelung mit dem Bajonett als Infantrist an die Front geschickt, wo er mehrmals verwundet wurde. Im Zweiten Weltkrieg zog man ihn zum Volkssturm ein, wobei er im Februar 1945 erneut dreimal verwundet wurde.
1946 wird er als Untermieter in die Graefestraße 30 einquartiert. Er arbeitet als Auswerter von Statistiken und als Gehilfe des Schriftstellers Seibold. 1956 gelingt es ihm, Hauptmieter einer Tiefparterre-Wohnung in der Dieffenbachstraße zu werden („Mutti, über uns wird 'ne Kellerwohnung frei!“ Wolfgang Neuss)
Ab 1960 bekommt er eine Rente. Bis zu seinem Tod, am 1. 7. 1979, bleibt er Mieter in der Dieffenbachstraße 59, Quergebäude. 1976 wird der Ingenieur Manfred Rühl sein Wohnungsnachbar im Tiefparterre. Dazu schreibt der Redakteur des „Nachrichters“, Norbert Kröcher (Knofo), 1995: „Als Richter stirbt, rettet Rühl dessen umfangreichen Nachlaß vor der Vernichtung durch die Müllabfuhr. Seitdem reist Richter mit Rühl. Nach dem Fall der Mauer macht Rühl in den Osten. Richter macht mit.“
In Petzow bei Werder erwirbt Rühl 1992 von der dortigen Obst- und-Gemüse-LPG ein Wohnhaus, dazu noch deren Gemüsezwischenlagerraum, aus dem einmal eine Probebühne werden soll: „um Richter zu spielen!“ Noch ist es aber nicht soweit, bisher gibt es nur die gelegentlichen Gastspiele des Tourneetheaters „Die Hasenheiden“ (Telefon: (0161) 1315127). Ihr Geld verdienen Ingenieur Rühl und Redakteur Kröcher vorwiegend bei der AB-Maßnahme „Kunst und Kultur“ in Lehnin. Daneben arbeiten sie das „gigantische Werk“ Artur Richters auf: „12.167 Manuskriptseiten, 892 Fotografien und fotografische Platten“. Dazu ein 12-Minuten-Film (auf 16 mm) und Dutzende Magnettonbänder – mit z.B. von Richter selbst kommentierten Bundestagsdebatten. Das Gesamtwerk charakterisiert Ingenieur Rühl so: „Artur Richters Welt – ist ein Unterstand, ein Keller, ein Bunker, eine Zelle – deren Wände – Arbeit, Krieg, Wohnung, Familie – heißen.“ Er zitiert dazu zwei fast willkürlich herausgegriffene Sätze aus Richters hinterlassenen Schriften: „Hätte man Geld und könnte das Leben wieder in geordnete Verhältnisse bringen, dann sind nebenstehende Erfahrungen keine Niederlage mit Insuffizienzgefühlen.“ / „Aber wenn ich für eine Wohnung, gedacht als wirkliches Wohnen und Heim, monatlich 300 DM zahlen soll, wo bleibt da das viele glücklich machende Geld.“
Wir entnehmen diesen knappen Zitaten bereits: der „Kontorist, Soldat, Literat, Poet und Notoriker“ Artur Richter war am wirklichen Leben interessiert, Ideenflucht war also seine Sache nicht! Helmut Höge
wird fortgesetzt
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