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■ NormalzeitDurch die D-Mark Brandenburg

Im Ostprignitzer Mittelzentrum Pritzwalk wurde gerade nach mehrjähriger Bauzeit der neue Marktplatz eingeweiht: mit Springbrunnen in der Mitte und weißen Pollern drumherum, in denen sich hinter einer Klappe Steckdosen für die Marktstände befinden. Im großen ganzen hält man dort die Marktmodernisierung für gelungen. Obwohl auch diese Maßnahme seltsam mit den vielen leerstehenden Läden und Häusern in der Stadtmitte kontrastiert. Besonders die aufgemotzte Villa des Brauereigründers leuchtet geradezu vor dem Hintergrund der leerstehenden Quandtschen Tuchfabrik, in der sich zuletzt die Ausbildungsstätte des Zahnradwerkes befand, das jetzt – MBO-privatisiert – nur noch mit einem Kernbereich am Stadtrand existiert.

Weil man auch die Wasserstandskontrolleure reduzierte, überschwemmte der Fluß nach tagelangen Regengüssen prompt die Brücken der Innenstadt. Für immer ist in dem ehemaligen Agrarindustriekreis vor allem die weiterverarbeitende Industrie „untergegangen“, die Großbäckerei wurde gerade abgerissen. Bemerkenswerterweise ging keine einzige LPG im Kreis in Konkurs. Das neue Gewerbegebiet Falkenhagen wird bisher zu 40 Prozent genutzt. Von den zuletzt 12.200 Einwohnern Pritzwalks zogen bis jetzt rund 1.000 weg. In einer Schule sollen die Lehrer morgens Alkoholpusteröhrentests durchführen. Der knapp 20prozentigen Arbeitslosigkeit kam man bisher großzügig mit Umschulungs- und ABM- Maßnahmen bei. Dazu gehört auch ein neues Heimatmuseum in einem Teil der Alten Brauerei, die ein Westdeutscher, Dieter Schäfer, reprivatisierte. Sein Bier heißt jetzt „Preußen-Pils“ und wird auch ähnlich dumpftümelnd beworben. Die Alte Mälzerei verpachtete er an den ehemaligen Gaststättenleiter Peter Wolf.

Vor einer Woche sickerte in Pritzwalk durch, daß Schäfer mit den „Aufschwung Ost“-Fördergeldern zur Modernisierung seiner Brauerei durchgebrannt sei: „Typisch Wessi!“ Die Mutter des Arbeitsamtsleiters, Blechschmidt, erfuhr dann Genaueres: Er sei mit einem Lkw und etlichen Millionen gen Westen abgehauen. Eine Kundin des Reisebüros am Marktplatz wußte dann noch Näheres: Man habe Schäfer auf den Bahamas aufgespürt. Am Bahnhofskiosk war man sich hingegen sicher, der Gesuchte befinde sich längst im Iran oder in Syrien. Ganz sicher waren sich auf alle Fälle viele, daß die vom Westen gesteuerte Kreiszeitung Schäfers Flucht vertusche!

Ich erfuhr dann die vorläufig letzte Version von der Buchhalterin der Brauerei, die, von mir darauf angesprochen, laut in ihre Computertastatur lachte: „Herr Schäfer war drei Wochen in Urlaub, das ist alles!“ Das Gerücht von seiner Flucht habe sie aber auch schon mehrmals in der Stadt gehört. Eine spätere Querschnittanalyse ergab dann noch, daß im Gegensatz zu der These von Jean- Noäl Kapferer, wonach selbst „Großgerüchte“ nur 10 bis 15 Prozent der Bevölkerung einer Stadt erreichen, in Pritzwalk über 20 Prozent der Einwohner von Schäfers Flucht überzeugt waren und sogar noch sind. Zuzustimmen ist Kapferer dennoch, daß es „beim Gerücht weniger um Information als um Konsumption geht“ und ferner, daß „das Gerücht ein Mittel zur Kontrolle ist“ – in diesem Fall des einzigen namhaften West-Investors der Stadt. „Bummeln in Pritzwalk – immer ein Erlebnis!“ oder so ähnlich wirbt die Stadt neuerdings für sich auf türkisfarbenen Plakaten.

„Wenn alles positive Selbstdarstellung ist, kümmert sich das Gerücht eben um die schlechten und versteckten Seiten der Menschen“, meint dazu der französische Gerüchteforscher. Und auf die Frage eines Interviewers, wie man ein gutes Gerücht in die Welt setzen könne, antwortete Kapferer: „Zunächst einmal müssen Sie feststellen: Welche Themen beunruhigen und beschäftigen das Soziotop, in dem Sie operieren wollen?“ Auf Pritzwalk bezogen: „Die Modernisierung – das ist der Kollaps!“ Helmut Höge

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