: Nordwest, Windstärke 9
Es ist einer von diesen Tagen, an denen sogar die Möwen hinter den Strandkörben Schutz suchen vor dem Sturm. Dunkelgrau bis schwarz sieht das Meer aus, meterhohe Wellen türmen sich auf, Sturzregen fällt vom Himmel. Einer der großen Herbststürme fegt mit Windstärke 9 über Norddeutschland. Heute Abend will die Landesbühne Niedersachsen Nord auf Norderney spielen – im Kurtheater der Nordseeinsel
Von ANNA POSTELS (Text) und Kathrin Doepner (Fotos)
Die Fähre von Norddeich-Mole fährt planmäßig um zwölf Uhr mittags ab. An Bord ein LKW mit der Aufschrift „Die Landesbühne“. Das Bühnenbild, technisches Equipment und die Requisiten reisen mit sechs Bühnentechnikern und einem Beleuchter. Wo sich im Schiff zur Sommerferienzeit Strandmatten, Surfbretter und Urlaubskoffer stapeln, stehen jetzt nur eine Hand voll Reisetaschen – gefüllt mit Seemannspullover und Friesennerz. Eine Schulklasse auf Tagesausflug erobert das Deck und ist begeistert vom böigen Wind. Im Schiffsbauch speisen die älteren Reisenden Bockwurst mit Senf. Für die Techniker der Landesbühne ist die Überfahrt Arbeitsalltag. Sie bleiben in ihrer LKW-Kabine, machen Pause. Es gibt Butterbrote und Kaffee aus der Thermoskanne. Obwohl die „Frisia V“ kräftig hin und her schaukelt.
Nach einer knappen Stunde legt das Schiff im Hafen Norderneys an. Der Landesbühnen-LKW fährt sofort zum Kurtheater – ein pittoreskes Gebäude aus dem Jahr 1894. Rote Plüschsessel, ein riesiger Kronleuchter. Alles ein wenig muffig. Aber immerhin ein richtiges Theater.
Was die Landesbühne sonst so vorfindet, das sind Schulaulen, Mehrzweckhallen, Kulturzentren, mobile Bühnen – und manchmal Technik aus dem Ersten Weltkrieg.
Die Landesbühne Nord hat ihren Sitz, ihr Haustheater und die Werkstätten, in Wilhelmshaven. Von dort aus tingelt sie durch Orte und Örtchen im Nordwesten Deutschlands.
Ihr Auftrag lautet, an der „kulturellen Grundversorgung“ der Region mitzuarbeiten. Bühnenkunst für kleinere und Kleinststädte, die sich selbst kein eigenes Theaterensemble leisten können. Oft sind die Aufführungen der Landesbühne für lange Zeit die einzige kulturelle Veranstaltung vor Ort.
Die Landesbühne-Nord tritt auf zwölf Bühnen auf. Neben den Städten Leer, Emden und Aurich wird die gesamte nordwestliche Peripherie bespielt: von Tettens-Middoge (Saal des Pfarramtes), Wittmund (Aula Schule Brandenburger Straße) über Quakenbrück (Franziskushaus) bis zur holländischen Grenze nach Weener (Kreisrealschule Rheiderland).
Etwa 100.000 Zuschauer konnte die Landesbühne in der Spielzeit 2003/2004 von Norden (Weiterbildungszentrum) bis Vechta (Metropoltheater) erreichen. Damit steigerte sie die Besucherzahlen um 20 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. „Die zweite Rekordspielzeit in Folge“, freut sich Intendant Gerhard Hess. Er leitet das Theater schon im siebten Jahr.
Der Spielplan setzt nicht nur auf die Klassiker der Dramenliteratur als sichere Publikumserfolge, sondern hat sich bundesweit durch Ur- und Erstaufführungen sowie Auftragswerke reichlich Anerkennung verschafft. Mit einem 18-köpfigen Schauspielensemble plus einigen Gästen wurden in der letzten Spielzeit 150 Abend- und 250 Kinder-/Jugendtheatervorstellungen gespielt.
Landesbühne, das meint eine zeitgenössische Form des Vagabundierens, des Herumreisens. „Knochenmühle“ wird sie oft genannt. Morgens Probe, dann mit dem Bus über Land fahren, abends Vorstellung, nachts heimkommen. Heute hier, morgen dort. Schauspielerin Sibylle Hellmann, seit drei Jahren an der Landesbühne, schätzt dieses Lebensgefühl. Das sei „Theater pur“, sagt sie, „wie in den Anfängen, da sind auch alle herumgefahren.“
An diesem Abend soll es eben Norderney sein. Auf der Bühne des Kurtheaters werden helle Holzplatten nach einem Zahlencode auf ihrer Rückseite verlegt: der Bühnenbildfußboden. Schon bei der Planung der Bühnenbilder muss der verschiedenen Aufführungsstätten gedacht werden. Einzelne Teile können deshalb – je nach Größe der Bühne vor Ort – herausgenommen oder zugefügt werden.
Heute ist die erste Vorstellung nach der deutschen Erstaufführung „Die Mai“, einem Stück der irischen Dramatikerin Marina Carr. Erstmals wird die Bühne außerhalb des Wilhelmshavener Stammhauses installiert. Die sechs Techniker sind flexibel. „Dann nehmen wir hier ein Stück weg, dort auch, da auch noch, dann passt das schon.“ Um 13.30 Uhr haben sie angefangen mit dem Aufbau, drei Stunden später steht alles. Das Bühnenbild ist relativ unaufwändig: Holzboden, zwei seitliche Wände und ein Fenster.
Der Beleuchter kann jetzt das Licht einrichten. Das bedeutet: Pause für die Techniker. Sie spielen erst mal eine Runde Fußball auf der Playstation und grillen Bratwürstchen.
Um sechs Uhr ist alles fertig. Jetzt fehlen nur noch die Schauspieler. Nachricht vom Festland: Die meisten Fähren seien ausgefallen, aber eine soll noch ablegen, so dass um 19 Uhr die Mimen am Theater eintreffen könnten. Die Vorstellung muss um 45 Minuten verschoben werden.
Derweil wird zum Zeitvertreib über die Rückfahrt diskutiert. Die letzte Fähre zurück nach Norddeich fährt um 18 Uhr von Norderney ab. Die Landesbühne wird mit einem „Sonderboot“ zurückfahren müssen. „Sonderboot“, das hört sich nach Nussschale an. Die Techniker scherzen: „Wir werden viel Spaß haben heute Nacht!“ Und erzählen, dass ein „Sonderboot“ ob des starken Seegangs schon mal so stark schaukelt, „dass alle mächtig grün werden“. Jetzt muss der Beleuchter dazwischenrufen, es seien noch Sturmböen Stärke 11 angekündigt. „Dann kommt hier heute niemand mehr weg“, sagt einer, „die Wappen von Norderney fährt immer“, entgegnet ein anderer. Aha, so heißt also das „Sonderboot“.
Wie angekündigt treffen die acht SchauspielerInnen, zwei Maskenbildnerinnen, Requisiteur, Garderobiere, Inspizientin, Regieassistent und Dramaturgin ein. Eilig wird alles vorbereitet. Die Mimen gehen in die Maske, der Requisiteur richtet die Bühne ein. Während die Schauspieler mit Lockenwicklern auf die passende Haarkrause warten, bekommen sie letzte Anweisungen von der Inspizientin: „Ich gebe dir das Zeichen von der anderen Seite, okay?“
Das Publikum wartet schon, hat aber Verständnis. Dramaturgin Sibille Hüholt gibt eine Einführung zum Stück und zur neuen irischen Dramatik.
Um 20.15 Uhr geht es endlich los: Das Stück passt zum Wetter. Wind heult aus den Lautsprechern – und umheult auch live das Theater. Das eine oder andere Mal prasselt auch Regen aus der Wirklichkeit auf das Dach des Bühnenhauses. Den Weg dorthin auf sich genommen haben 120 der 6.500 Inselbewohner. Die Besucher sind im gehobenen Alter.
Zweieinhalb Stunden später ist alles vorbei – und gut gelaufen. Nach der Vorstellung wird im rasenden Tempo die Bühne wieder verladen. Auch die Schauspieler tragen Kisten. Die Techniker wollen noch heute Nacht mit aufs Festland. Nur der Fahrer wird allein auf der Insel bleiben müssen, weil das Sonderschiff keine LKWs mitnehmen kann. 45 Minuten später ist alles verstaut. Um 23.30 Uhr holt ein Sonderbus des Team vom Theater ab und fährt durch die leeren Straßen zum Hafen. Da liegt sie, die „Wappen von Norderney“.
„Oh, die ist aber klein“, entfährt es der Schauspielerin Frederike Frerichs. Sie ist neu an der Landesbühne: „Alles ist noch recht abenteuerlich für mich.“ Nicht aber für Regieassistent Frank Huhn, der seit drei Jahren dabei ist und schon etliche Male auf Norderney war. „Dieses ist noch das größere der kleinen Schiffe“, klärt er auf.
Der Aufenthaltsraum im Bauch des Schiffes ist ideal für das „Ritual“, wie es das Landesbühnen-Ensemble nennt. Aus den Taschen und Rücksäcken werden Dosen mit Avocado- und Knoblauchcreme, Teller mit Käse und Trauben, Kräcker, Grissini und Brot geholt. Bunte Plastikbecher stehen bereit, aus denen gemeinschaftlich Rotwein getrunken wird. Die Stimmung beim mitternächtlichen Picknick ist ausgelassen. Aber ein etwas flaues Gefühl macht sich im Magen breit. „Frederike, ist Dir schlecht?“ „Jetzt red’ doch nicht davon“, wehrt diese ab. Die „Wappen von Norderney“ flitzt schaukelnd schnell. Nach vierzig Minuten ist alles vorbei. Der Bus wartet schon. Jetzt nur noch eine gute Stunde nach Wilhelmshaven. Um zwei Uhr nachts werden alle im Bett sein.
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