Nominierte 2007: Ursula Dorn : Einfach helfen ist ihr lieber
Die 78-jährige Ursula Dorn hilft Drogenabhängigen und gründete die Initiative "Schellack"
In Ursula Dorns Wohnzimmer steht ein Schreibtisch hochkant wie ein Regal. Auf dem Schubladenelement prangt eine Topfpflanze. "Es war nicht mehr genug Platz im Zimmer, da habe ich den Schreibtisch eben so hingestellt", schmunzelt die 78-Jährige. Und weist auf die Couch, die hinter dem umfunktionierten Möbelstück steht: "Dahinter ist so eine gemütliche Ecke, in die ich mich gern zurückziehe." Damit hat die Ärztin gleich zwei ganz entscheidenden Charakterzüge offenbart: Sie ist einfallsreich und produktiv, aber gleichzeitig sehr bescheiden. Das, was Ursula Dorn bei Butterbrezeln, Kaffee und Kuchen erzählt, muss man schon gezielt aus ihr herausfragen. Es ist ihr sichtlich unangenehm von ihren Wohltaten zu sprechen.
Ursula Dorn ist Kinderärztin und Radiologin. Nach ihrem Studium hat sie einige Jahre in einem Krankenhaus in Tansania gearbeitet. "Aber ich bin nicht Albert Schweitzer", fügt sie gleich hinzu, als sie von ihrem Einsatz in dem afrikanischen Land berichtet. Als sie zurück nach Stuttgart kam, eröffnete sie im Alter von 54 Jahren ihre erste eigenen Praxis.
Von Anfang an hat sie dort verstärkt Drogenabhängige behandelt. "Erst Anfang der 90er-Jahre wurde Methadon zugelassen, aber vorher konnte man den Abhängigen auch mit anderen Mitteln helfen, die gerade noch mit dem Betäubungsmittelgesetz vereinbar waren", erklärt sie. "Kodeinsaft zum Beispiel." Es hatte sich schnell herumgesprochen, dass Junkies bei Ursula Dorn auf Unterstützung hoffen konnten. Manche haben einen weiten Weg auf sich genommen, um zu ihr nach Stuttgart in die Praxis zu kommen. "Ganz einfach war das nicht", erinnert sich Ursula Dorn. "Vor allem die anderen Patienten haben sich manchmal an den Heroinabhängigen im Wartezimmer gestört. Aber ich habe dann bestimmte Sprechzeiten eingerichtet." Allerdings, betont die Ärztin, sei den Abhängigen ihre Sucht nicht immer anzusehen gewesen. "Es kamen auch Lehrerinnen und Zahnarzthelferinnen, die Heroin spritzten."
Schätzungsweise 120 Drogenabhängige hat Ursula Dorn bis zu ihrem Ruhestand substituiert; selbst als sie die Praxis schon an ihre Nachfolgerin übergeben hatte, übernahm sie noch regelmäßig die Methadonvergabe an Betroffene. Der Drogenersatzstoff Methadon sollte täglich unter ärztlicher Kontrolle eingenommen werden. "Auch an Sonn- und Feiertagen", sagt Ursula Dorn und weist etwas enttäuscht darauf hin, dass ihre Nachfolgerin diese Versorgung eingestellt hätte. Aber sie nimmt sie auch gleich wieder in Schutz: "Es ist eben nicht so einfach, es zeitlich zu organisieren." Eine solche Substitutionstherapie kann ermöglichen, dass Süchtige aus dem Teufelskreis von Beschaffungskriminalität oder Prostitution herauskommen.
Doch die rüstige Ärztin beließ es nicht bei der täglichen medizinischen Hilfe für Betroffene. Eines Tages, Anfang der 90er-Jahre, lernte sie Ingo kennen, der zu ihr in Behandlung kam. Der gelernte Schreiner träumte von einer eigenen Werkstatt, aber aufgrund seiner Abhängigkeit fand er noch nicht einmal einen Job. Ursula Dorn hatte das Problem der Arbeitslosigkeit bei ihren Patienten häufig kennengelernt hat. "Ich dachte mir, die Arbeit könnte doch ein Ersatz für den Kick durch die Drogen werden", erinnert sie sich. Sie wollte den Abhängigen helfen. 1995 kaufte sie ein Haus im Stuttgarter Stadtteil Rohr, in dem einige Drogenabhängige wohnen und sich eine Werkstatt einrichten konnten. 1998 gründete sie die "Initiative Schellack", einen gemeinnützigen Verein, der ehemalige Heroinsuchtkranke wieder eingliedern möchte. Ursula Dorn schlägt vor, die Werkstatt zu besuchen. "Am Samstag haben wir Tag der offenen Tür", sagt sie und zeigt auf ein selbst gebasteltes Plakat. Papier, Schere und Klebstoff liegen noch auf ihrem Schreibtisch. Ursula Dorn hilft heute noch, so gut sie kann.
Am Eingang der kleinen Werkstatt, die in einer Garage untergebracht ist, steht ein großer, kräftiger Mann. Es ist Ingo, der Frau Dorn freudig begrüßt. Er arbeitet seit 1996 ganztags in der Werkstatt und restauriert alte Möbel. Dazu benutzt er ausschließlich Schellack, einen Naturlack, der hauptsächlich durch seine Verwendung bei der Herstellung von Schallplatten bekannt ist. Die kleine Werkstatt platzt beinahe, so viele alte Möbel, Werkzeuge und vor allem Flaschen mit Schellack stehen darin. In einer Ecke sitzt ein junger Mann und feilt an einem Holzbuchstaben. "Hier bei uns können auch Arbeitsstunden abgeleistet werden, die Schwarzfahrern oder Kleinkriminellen aufgebrummt wurden", erklärt Ingo. Neben ihm arbeiten hier noch ein weiterer ständig Beschäftigter und ein Ein-Euro-Jobber.
Die Gehälter werden von den Mitgliedern der Initiative, über die Einnahmen aus der Werkstatt sowie einem monatlichen Zuschuss der Adele-Winter-Stiftung - einer Einrichtung, die gemeinnützige Organisationen fördert - finanziert. "Aber Frau Doktor hat immer geholfen und immer etwas rein gesteckt", versichert Ingo. "Bis vor kurzem hat sie sogar noch die Buchhaltung der Initiative geführt, aber jetzt haben wir einen ehrenamtlichen Buchhalter gefunden." Ursula Dorn schaut ein bisschen betreten zur Seite. Aber sie lächelt. Lob und Ruhm und Ehre sind ihr unangenehm. Einfach helfen, ohne viele Worte, ist ihr sichtlich lieber.
taz Magazin 16.6.2007
Kontakt: Initiative Schellack, Siedlerstr. 7, 70563 Stuttgart
Jutta Heess