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taz FUTURZWEI

Nicaragua verklagt Bundesrepublik Angriff auf den Westen

Das Völkerrecht, die UNO und die internationalen Gerichtshöfe sollten Wegbereiter von Freiheit und Menschenrechten sein. Doch nun verlieren diese Institutionen an Macht und damit auch die westlichen Demokratien, meint Udo Knapp.

Außenministerin Baerbock bei der 55. Sitzung des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen Foto: Foto: Hannes P. Albert/dpa

taz FUTURZWEI | Winston Churchill, Franklin D. Roosevelt und Josef Stalin haben am 14. August 1941 die Atlantik-Charta mit den „vier Freiheiten“ verabschiedet. Mitten im von den Deutschen begonnenen II. Weltkriegs strebten die Regierungschefs Großbritanniens, der USA und der just von Nazi-Deutschland überfallenen Sowjetunion enge wirtschaftliche Zusammenarbeit und wirtschaftlichen Ausgleich zwischen allen Völkern an, Sicherheit vor Tyrannei überall auf der Welt, alle Meere sollten für alle frei zugänglich sein und Nationen sollten entwaffnet werden, die Waffen offensiv außerhalb ihrer eigenen Grenzen gegen andere Staaten einsetzen. Die Atlantik-Charta war die Grundlage für die Selbstverpflichtung der Alliierten, das Naziregime mit allen militärischen Mitteln gemeinsam niederzuringen.

Die Atlantik-Charta war nach der deutschen Kapitulation im Juni 1945 auch die Grundlage für Gründung der UNO. Als Antwort auf den Weltkrieg der Deutschen sollte ein System internationaler Friedenssicherung, ein alle Mitglieder bindendes Forum des politischen Ausgleichs auf der Grundlage der Menschenrechte geschaffen werden. Zur Sicherung dieses Zieles in Streitfällen zwischen den Nationen wurde 1945 der Internationale Gerichtshof (IGH) mit Sitz in Den Haag eingerichtet. Seine Urteile sollten für die Signatarstaaten des Gerichtshofes verbindlich sein.

Eine gemeinsame Antwort auf Verbrechen

Mit den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen 1945/46 wurde das Internationale Strafrecht auf den Weg gebracht. 2002 nahm der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) zur Verfolgung und Bestrafung schwerer Verbrechen von internationaler Bedeutung in Den Haag seine Arbeit auf.

Die Hoffnung auf eine gemeinsame Antwort auf die Verbrechen der Deutschen im II. Weltkrieg oder gar eine Art Weltregierung, auf den Beginn eines Zeitalters dauerhaften Weltfriedens durch für alle verbindliche, völkerrechtliche Regeln, hat sich schnell zerschlagen. Schon bald hatte Stalin die Geltung der Atlantik-Charta für Polen und Ungarn verweigert, Churchill tat dies für Afrika. Schnell wurde klar, dass es ein dauerhaftes, weltweit geltendes Gewaltmonopol als Lehre aus dem gemeinsamen Sieg über Nazi-Deutschland nicht geben würde. Im Gegenteil, schon bald sah der Westen die Notwendigkeit, eigene Abschreckungs- und Verteidigungsstrukturen aufzubauen.

Die 1949 von 12 westlichen Ländern gegründete Nato war die Antwort auf die bis heute nicht erledigten, sondern wieder verschärft ausgetragenen Systemdifferenzen. Sie fanden im Kalten Krieg und finden heute im Systemkrieg mit Russland, China und dem Globalen Süden ihren Ausdruck.

Orte und Instrumente im politischen Systemkampf

Gleichwohl haben die UNO und die Internationale Gerichtsbarkeit als Foren und Institutionen der Hoffnung auf weltweite Friedens- und Freiheitssicherung gewirkt, als Orte, an denen das Miteinander-Reden und gelegentlich auch Handeln vorangebracht worden ist. Nach der Implosion der Sowjetdiktatur 1990 wollten viele glauben, dass es nun aber zu Freiheit, Demokratie und Menschenrechten keine Alternativen mehr gäbe.

Weit gefehlt.

Trotz aller Versuche der westlichen Demokratien mit pseudomoralischen Abmahnungen und bemühten Relativierungsversuchen der Systemunterschiede Harmonie auf der Weltbühne herzustellen, sind die UNO und die Internationalen Gerichtshöfe zu Orten und Instrumenten im politischen Systemkampf verwandelt worden.

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taz FUTURZWEI N°28: Weiterdenken

Zur aktuellen Ausgabe

Wer ist „Der kleine Mann“, wer sind „Die da oben“, wie geht „Weltretten“, wie ist man „auf Augenhöhe“ mit der „hart arbeitenden Bevölkerung“? Sind das Bullshit-Worte mit denen ein produktives Gespräch verhindert wird?

Über Sprache und Worte, die das Weiterdenken behindert.

U.a. mit Samira El Ouassil, Heike-Melba Fendel, Arno Frank, Dana Giesecke, Claudia Kemfert, Wolf Lotter, Nils Minkmar, Bernhard Pörksen, Bernhard Pötter, Florian Schroeder, Paulina Unfried, Harald Welzer und Juli Zeh.

Jüngste Beispiele: Nicaragua, eine korrupte und menschenrechtsfeindliche Diktatur, hat Deutschland vor dem IGH wegen Beihilfe zum Völkermord im Gaza-Streifen verklagt. Südafrika, das sich nach fast 30 Jahren erstmals vorsichtig von der korrupten Herrschaft des ANC löst, hat beim IGH beantragt, die völkerrechtlich gedeckten Versuche Israels, den Terror der Hamas gegen seine Existenz zu beenden, als „schwerwiegenden und nicht wiedergutzumachenden Verstoß gegen die Völkermordkonvention“ zu verurteilen.

Idee der UNO entfaltet keine Wirkung

Nach einem israelischen Luftangriff auf ein Munitionsdepot der Hamas mitten in einem Flüchtlingslager nahe Rafah, bei dem zahlreiche Flüchtlinge starben, tritt der Sicherheitsrat der UNO zusammen und verlangt von Israel, den Krieg gegen die Hamas sofort zu beenden. Dagegen ist Russland mit seinen täglichen Angriffen auf ukrainische Städte und zivile Einrichtungen noch nicht einmal Gegenstand einer ordentlichen Sitzung des Sicherheitsrates gewesen, geschweige denn aufgefordert worden, seinen Eroberungskrieg gegen die Ukraine zu beenden. In Saudi-Arabien müssen Ehefrauen ihrem Mann gehorchen, so will es das Gesetz des Landes. Trotzdem hat das Königreich vor einigen Wochen den Vorsitz im wichtigsten Uno-Gremium zum Thema Gleichberechtigung von Männern und Frauen erhalten.

Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass die Idee der UNO und der internationalen Gerichtshöfe, Wegbereiter von Kants Ewigem Frieden und einer Weltregierung zu sein, keine Wirkung entfalten. Im Gegenteil: Diese Institutionen verlieren wegen ihres politischen Missbrauchs durch die Systemgegner der liberalen Demokratie, Länder des globalen Südens, Russland und China immer mehr an Macht und Einfluss.

Neue Allianzen und Bündnisse

Vollmundige Bekenntnisse zum Völkerrecht helfen in dieser Situation nicht mehr weiter. Der Westen, und vor allem Europa als die historische Quelle der westlichen Zivilisation, muss mit den Staaten, die sich dazu bereitfinden, neue, konkrete Allianzen und Bündnisse jenseits der UNO und der anderen dysfunktionalen Institutionen internationalen Rechts aufbauen. Frankreichs Präsident Macron hat dafür eine verbindliche europäische Sicherheitspolitik mit einer aufgerüsteten und damit verteidigungsfähigen europäischen Armee verlangt, die in der Nato mit einer Stimme auftreten und Verantwortung übernehmen könnte.

Auf dieser Grundlage könnte im – auch in Zukunft unverzichtbaren – transatlantischen Bündnis versucht werden, die UNO und die internationale Gerichtsbarkeit wieder auf ihren Gründungsauftrag zu verpflichten. Auf Augenhöhe mit den USA oder zur Not auch ohne sie. Allerdings scheinen weder USA noch EU und die europäischen Länder die existentielle Bedrohung ihres Zivilisationsmodells ernst zu nehmen. Den heutigen Staatschef der westlichen Welt scheint jedes Interesse an einer Erneuerung der Atlantik-Charta zu fehlen.

Die vier Freiheiten, die sie gewährleisten soll, sind übrigens Redefreiheit, Glaubensfreiheit sowie die Freiheit von Furcht und Not für alle Menschen.

■ UDO KNAPP ist Politologe und kommentiert an dieser Stelle regelmäßig das politische Geschehen für das Magazin taz FUTURZWEI.