New Orleans' Musikszene: Eine neue Stadt aus Groove
Die einzigartige Musikszene von New Orleans ist der Grund, dass sich die Stadt fünf Jahre nach dem Hurrikan "Katrina" langsam von den Verwüstungen erholt.
Mattes rötliches Licht verwischt die Konturen der Menge. Posaune und Trompete peitschen die Zuhörer auf, Saxofon und Tuba erzeugen immer stärkere Druckwellen. Eine Bassdrum gibt den Takt vor, die Blechtrommel stolpert in Synkopen durch die Akkorde der Bläser. Die "Rebirth Brass Band" entfesselt auf der Bühne ein wahres Inferno.
Brass Bands in New Orleans sind so etwas wie Blaskapellen moderner Prägung. Sie nehmen den Jazz, zerren ihn auf die Straße, schleifen ihn durch den Schmutz und vermischen ihn mit Soul und Funk. Sie heißen Hot 8 oder Dirty Dozen, und wo sie auftauchen, bricht sich eine unwiderstehliche Energie Bahn. Rebirth ist eine Institution in der Stadt am Mississippidelta. Seit 1983 tritt die Band jeden Dienstag in der Maple-Leaf-Bar im Stadtteil Carrolton auf. An der Wand lehnen ein paar wackelige Holzbänke. Aber wer will bei einem solchen Konzert schon sitzen?
New Orleans feiert wieder - zumindest scheint es so. Zu großen Teilen stand die Stadt Ende August 2005 unter Wasser, 1.800 Menschen starben. Fünf Jahre, nachdem der Hurrikan "Katrina" New Orleans fast zerstört hat, stehen noch längst nicht wieder alle Häuser, sind noch längst nicht alle Schäden beseitigt, erst recht nicht die psychischen. Dennoch: Vielen Bewohnern der "Crescent City" ist klarer denn je, was ihre seltsame, halbmondförmige Ansiedlung an der Küste von Louisiana so einmalig macht. Nirgendwo sonst gibt es ein derart breit gefächertes, originäres musikalisches Erbe, das sämtliche Poren der Stadt durchdringt. New Orleans ist sich seiner Geschichtlichkeit bewusst, aber weit davon entfernt, rückwärtsgewandt zu sein. Dass die Stadt trotz der massiven Verwüstungen, die sie erlitten hat, inzwischen so eindrucksvoll wiederkehrt, hat sie vor allem ihrer einzigartigen Musikszene zu verdanken.
"Rebuilding New Orleans one Groove at a Time", so hat es sich die Band Papa Grows Funk auf die Fahnen geschrieben: Nicht nur Bagger und Kräne bauen diese Stadt neu auf, sondern Jazz und Cajun, Zydeco, Soul und R n B. "Regeneriert sich die Musikszene, regeneriert sich auch die Stadt." Dies, sagt der Jazztrompeter Leroy Jones, sei von Anfang an seine Überzeugung gewesen. Schon wenige Tage nach der Überschwemmung gründete sich die Organisation Sweet Home New Orleans mit dem Ziel, die in alle Himmelsrichtungen versprengten Musiker zurück in die Stadt zu holen. Bis heute, erzählt Sprecherin Kat Dobson, hilft die Organisation im Land verstreuten Künstlern bei der Rückkehr in ihre Heimatstadt, beim Finden einer neuen Unterkunft, zahlt anfängliche Mietzuschüsse. Sie schließt Krankenversicherungen ab und kooperiert mit der New Orleans Musicians Clinic, die ihre Patienten zu vergünstigten Konditionen behandelt.
Denn mit der Musik steht und fällt in New Orleans alles. "Die Identität dieser Stadt ist weitgehend eine musikalische", sagt David Freedman, Manager des Radiosenders WWOZ, der so etwas ist wie das schlagende Herz der Musikszene von New Orleans. Die Musik starb nicht, im Gegenteil - sie gab der Stadt ihr Selbstbewusstsein zurück. Als der Sender während "Katrina" evakuiert wurde, sendete die Station nur fünf Tage später online von einem Server aus Newark, New Jersey.
"Vielen gab das die Hoffnung, dass die Stadt nicht für immer zerstört war", erinnert sich Freedman. Bei WWOZ ist die Tür zum Studio immer offen, Musiker gehen ein und aus, so wie auch im bekanntesten Plattenladen der Stadt: Die Louisiana Music Factory in der Decatur Street führt über 2.000 Kommissionskonten von KünstlerInnen, die hier ihre im Selbstverlag oder bei kleinen Labels veröffentlichten Aufnahmen zum Kauf anbieten. Inzwischen sind rund 80 Prozent der Musiker zurückgekehrt - ein Anteil, der etwa dem Rest der Bevölkerung entspricht, aber von großer symbolischer Bedeutung ist. Dass der fast 90-jährige Dave Bartholomew, dessen Songs schon Elvis coverte, seiner Stadt die Treue hält, kann man gar nicht hoch genug einschätzen. Da lässt sich verschmerzen, dass die Musiker der Brüderband Neville Brothers in alle Winde zerstreut leben. Nach "Katrina" eröffnete WWOZ auf seiner Website eine Liste mit Musikern, die den Sturm nachweislich überlebt hatten. Jeder neue Name brachte neuen Mut, und als schließlich der vermisste Fats Domino, den die Nationalgarde in letzter Minute in einem Schlauchboot rettete und den schließlich seine Familie in einem Heim in Baton Rouge ausfindig machte, auf der Liste auftauchte, war dies für manche ein Grund, sich um den Hals zu fallen.
Heute lebt der 82-Jährige an der Westbank von New Orleans, auf der anderen Seite des Mississippis. Sein ehemaliges Studio steht wie ein glitzerndes Mahnmahl in der 1208 Caffin Avenue im gespenstischen, weitgehend entvölkerten Lower 9th Ward. Nebel kriecht über den Damm an der Flood Street, auf den übrig gebliebenen Fassaden sind noch die Vermerke der Rettungstrupps aufgesprüht: Ein rotes X, das Datum, das Kürzel der Suchmannschaft und die Anzahl der Leichenfunde. Manche Bewohner belassen die Zeichen wie Tätowierungen auf ihren Häusern.
Wie ein Vergrößerungsglas
Die neue Blüte der Musikszene von New Orleans wirkt sich auch auf das Angebot aus. Heute, schätzt Leroy Jones, gebe es in New Orleans mehr Clubs und Bars als noch vor "Katrina". An diesem Abend hilft Jones in der altehrwürdigen Preservation Hall im French Quarter aus - der Trompeter der hauseigenen Jazzband ist krank geworden. Hier wird das Erbe des traditionellen New-Orleans-Jazz der 1920er und 30er Jahre bewahrt. Die Musiker tragen Krawatten, der Raum erinnert an eine schlecht beleuchtete Scheune und verströmt die Magie längst vergangener Zeiten. Es gibt keine Mikrofone, die Farbe blättert von den Wänden, viele Zuhörer sitzen auf dem Fußboden. Wer etwas trinken will oder aufs Klo muss, geht zum Irish Pub über die Straße oder in die Pizzeria nebenan.
Den musikalischen Kosmos von New Orleans beleuchtet auch die Fernsehserie "Tremé", realisiert von "The Wire"-Macher David Simon. Sie dient als Vergrößerungsglas für das Leben im Stadtteil Tremé nach "Katrina". Zahllose Musiker wie der Jazzer Kermit Ruffins oder Trombone Shorty spielen meistens sich selbst. Gedreht wird an Originalschauplätzen.
Viele Missstände in New Orleans hat die Katastrophe paradoxerweise erst sichtbar gemacht. Doch anders als zuvor gibt es jetzt ein soziales Netz, das allerdings fast ausschließlich auf privaten Initiativen beruht. Im Durchschnitt, so Kat Dobson, verdienten Musiker hier weniger als 18.000 Dollar pro Jahr, die meisten leben unterhalb der Armutsgrenze. Non-Profit-Organisationen wie Tipitinas oder der MusiCares Hurricane Relief Fund springen für eine tatenlose Politik in die Bresche. Vielen Verantwortlichen gilt die Musikszene immer noch als Element der Stadtfolklore, für die Belange ihrer Protagonisten setzt sich in der Verwaltung kaum jemand ein.
Bei einem Kaffee im Napoleon House, das Napoleon gleichwohl nie bezog, erzählt der Klarinettist Evan Christopher, er sei so verbittert über das Katastrophenmanagement der Regierung gewesen, dass er der Stadt auf Dauer den Rücken kehren wollte. Doch sein Spiel, sagt er, sei so eng mit New Orleans verflochten, dass er im Exil allmählich den Bezug zu dessen lebendigen Ursprüngen verlor. Erst 2008 sei ihm klar geworden, dass er der Stadt nur aus Enttäuschung fern blieb, dass hier Herausforderungen warteten: Wenn die Politik versagt, seien jetzt eben die Musiker gefragt, als Lehrer und als Vorbilder für die Jugend.
Ein Dorf - nur für Musiker
Er fordert auch einen Musikbürgermeister - nicht unbedingt ein realitätsfernes Anliegen in einer Stadt, für die der Tourismus der wichtigste Wirtschaftsfaktor ist. Ein Besuch in der Port Street im Stadtteil Marigny, einige Minuten vom French Quarter entfernt: Am Haupthaus vorbei geht es in den Garten, Saxofonklänge schallen über den Hof. Nach ein paar Stufen öffnet Martin Krusche die Tür zu seinem Double Shotgun House, einem ehemaligen Sklavenquartier. Krusche kommt aus München, seit 2004 lebt er in New Orleans. Sein neues Haus ist schon fertig - ein ganzes Musikerdorf aus 80 Häusern hat die einst von Jimmy Carter gegründete Hilfsorganisation Habitat for Humanity gebaut.
Jeder muss 350 Stunden freiwillige Arbeitsstunden ableisten. Danach kann man sich für ausgeschriebene Grundstücke bewerben. Für sein neues Eigenheim muss Krusche 75.000 Dollar abzahlen, plus Termiten- und Flutversicherung. Nichts von dem, was New Orleans bietet, sagt Krusche, nimmt er heute mehr als selbstverständlich. Die Schneisen, die der Hurrikan in diese Stadt geschlagen hat, sind nicht beseitigt, doch sie haben zu einem besseren Verständnis der eigenen Sonderstellung geführt. Nichts würde New Orleans mehr helfen, als wenn sich dieses Verständnis auch im Rest der Welt verbreitete.
"Echte Musikfans", sagt Krusche, "müssen einfach früher oder später den Weg nach New Orleans finden."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!