■ Neues von der Pflegeversicherungs-Diskussion: Lichtung im Nebel
Schwank, Posse, Trauerspiel? Jedenfalls ist es ein außerordentlich lehrreiches Stück, das auf vielen Bühnen und mit einer reichen Schar von Darstellern aufgeführt wird. Die Regierungsparteien streiten untereinander und mit der Opposition, die Gewerkschaften drohen, die Arbeitgeber intrigieren, Wohlfahrtsverbände und Kirchen versuchen sich als Anwalt oder Mittler. Gelegentlich rutscht die Darbietung ins Lächerliche, doch im ganzen ist die Sache den Aufwand wert. Es geht um die Pflegeversicherung.
Gestern zum Beispiel lehrte uns die Aufführung, wie schnell Erfolge nutzlos verpuffen, wenn man sie nicht erkennen will. Die Gewerkschaftsbewegung hat, was im letzten Jahrzehnt selten genug zu feiern war, der Regierung etwas abgetrotzt. Die Karenztage sind vom Tisch, aber DGB und DAG (und mit ihnen die SPD) verharren derart unverändert im kategorischen Nein, daß alle Welt annehmen muß, es sei eigentlich gar nichts passiert. Doch so klein der Unterschied zwischen Karenztagen und der neuen Feiertagsfinanzierung auch scheinen mag, die Folgen könnten in diesem Fall groß sein. Wenn man sie nur nutzt! Denn immerhin ist die Sache mit den Feiertagen eine Annäherung an die Redlichkeit. Mit den Karenztagen wollte die Koalition eine ordnungspolitische Bresche schlagen, die mit der Pflege herzlich wenig zu tun hat. Jetzt zumindest ließe sich über eine halbwegs übersichtliche Kalkulation streiten: zwei Arbeitstage pro Jahr plus 0,85 Prozent vom Bruttoeinkommen. Ist uns die Pflegeversicherung soviel wert?
Doch weil der DGB sich und seinen Mitgliedern diese Frage nicht stellen will, verurteilt er sich dauerhaft zur Rolle des Nebendarstellers. Als gäbe es anonyme Mächte (namens Staat? Namens Gesellschaft?), die aus einem Füllhorn die Milliarden für die Pflegeversicherung schütten können, drücken sich auch andere Akteure um die legitime Frage, ob die Versicherten in diesem Fall nicht alleine zahlen sollen. Schon das schlichte ökonomische Argument der galoppierenden Lohnnebenkosten hat einiges für sich. Wie begeistert wäre beispielsweise der taz-Aufsichtsrat von der Vorstellung höherer Lohnkosten zwecks Pflege? Aber auch gediegenere mittelständische Unternehmen gerieten in Schwierigkeiten. Doch weit schwerer wiegt, daß das Pflegerisiko eben zu den neuen sozialen Fragen gehört, die nicht aus dem Arbeitsverhältnis erwachsen.
Solange die Diskussion darum beharrlich verweigert wird, können sich FDP und Union ganz so, wie es anonymen Mächten zusteht, in ihre Nebel zurückziehen. Und behalten trotz einer kräftigen Niederlage das letzte Wort. Tissy Bruns, Bonn
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