piwik no script img

■ Neue Dokumente belegen, daß die Lage am 17. Juni 1953 weitaus drama-tischer war als bislang angenommenEine Revolte gegen den SED-Staat

Als der Bundestag wenige Tage nach dem Aufstand beschloß, den 17. Juni zum „Tag der deutschen Einheit“ zu erklären, warteten Hermann Stahl und Walter Krüger in einer Todeszelle auf ihre Hinrichtung. Erschossen wurden beide am 4. Juli 1953. Woher sie kamen, wo sie demonstriert und welche Rolle sie beim Aufstand spielten, ist unbekannt. Die Geschichte der Opfer ist weder geschrieben, noch sind die Militärarchive in Moskau durchgeforstet. Nach einer Liste, die kürzlich Rainer Hildebrandt, Leiter des Mauer-Museums „Check-Point-Charlie“, vorlegte, hat der Aufstand mindestens 109 Menschen das Leben gekostet. 27 Demonstranten starben an Schußverletzungen, 17 an Verletzungen unbekannter Art, 20 DDR-Bürger wurden hingerichtet. Vier Volkspolizisten und Stasimitarbeiter wurden von Demonstranten getötet, 41 Sowjetsoldaten standrechtlich erschossen – sie hatten sich geweigert, selber zu schießen.

Als in den Folgejahren die Bundesbürger den Feiertag zur Fahrt ins Grüne nutzten, saßen noch Tausende DDR-Bürger in Zuchthäusern. Die im Westen berührte dies wenig. Das Wirtschaftswunder war wichtiger als die nationale Einheit, und das verlogene Pathos, das die Politiker um diesen Tag legten, verstellte lange den Blick auf das, was sich wirklich in 272 Orten abspielte: der erste große und spontane Aufstand, der nach dem Krieg in einem Ostblockstaat stattfand, und dies mit einer Dynamik, die alle überraschte.

„Das war keine Sonntagsprozession“, sagte Edgar Schulz, damals Elektriker auf Block 40 in der Ostberliner Stalinallee, „sondern eine Revolte gegen die Regierung“. Die Forderung nach Rücknahme der Normenerhöhung war „Nebensache“, die „Hauptsache“ der Wunsch, „endlich frei zu sein“.

Mit der Unzufriedenheit über die wirtschaftliche Entwicklung in der DDR fing die Revolte an. Die Auswertung von lokalen SED- und Stasi-Meldungen durch die Historiker Armin Mitter und Stefan Wolle („Untergang auf Raten, Bertelsmann Verlag 1993“), und unabhängig von ihnen durch Gerhard Beier („Wir wollen freie Menschen sein, Bund Verlag 1993“) ergibt, daß die innenpolitische Lage weitaus bedrohlicher war, als bisher angenommen wurde. Die Stimmung war seit Monaten explosiv. Überall im Lande erklärten Arbeiter bei Betriebsversammlungen, daß die Regierung abgewirtschaftet und zu verschwinden habe. Erstaunlich ist im Rückblick, daß die Staatssicherheit diese Flut von Berichten nicht zusammenfasste, das ZK der SED die brenzlige Lage nicht erkannte, und am 14. Mai 1953 mit der zehnprozentigen Normenerhöhung sogar noch die Lunte legte. Die faktische Lohnsenkung, das ergeben die neuesten Forschungen aus den bisher unzugänglichen Archiven, waren – um im Bild zu bleiben – die Streichhölzer. Angezündet wurden sie am 13. Juni auf einer von der Betriebsgewerkschaftsleitung des VEB Industriebau organisierten Dampferfahrt auf dem Berliner Müggelsee. Nach viel Alkohol und Reden kletterte der Brigadier der Baustelle Krankenhaus Friedrichstraße Alfred Metzdorf auf einen Tisch und proklamierte: „Ab Montag, 15. Juni wird gestreikt.“

So begann der Streik, der zum Generalstreik wurde, obwohl der RIAS (Rundfunk im amerikanischen Sektor) erst am Mittag des 16. Juni den ersten ausführlichen Bericht brachte, und der Berliner DGB-Vorsitzende Ernst Scharnowski erst am frühen Morgen des 17. Juni die verschlüsselte Botschaft „sucht Eure Straußberger Plätze überall auf“ sendete. Da war alles schon am Laufen. Am 15. Juni gingen die Arbeiter der Baustelle Friedrichshain und von der Stalinallee auf die Straße und forderten die Rücknahme der Normenerhöhung. Einen Tag später waren es schon Tausende und am Nachmittag tauchten die Parolen auf, die fortan die wichtigsten blieben: „Wir wollen freie Menschen sein“, „freie Wahlen“ und „von Ulbricht, Pieck und Grotewohl haben wir die Schnauze voll“. Am 17. Juni waren es schon Hundertausende, die dieses fordern. Gefängnisse werden gestürmt, Rathäuser erobert –, am Nachmittag wurde das Kriegsrecht von den Sowjets verhängt. In Berlin, Magdeburg, Leipzig, Halle und Gera lagen dann Tote auf den Straßen. Der Aufstand, den die SED, aber auch Stephan Hermlin, Stefan Heym, Anna Seghers und Erich Loest als Werk von „faschistischen“ Provokateuren bezeichneten, war zu Ende, bevor er sich entfaltete. Anita Kugler

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen