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■ Nebensachen aus WarschauEin polnischer Western

Für Polens Speisewagen, im Volksmund „Wars“ genannt, brachte das Ende des Kommunismus vor allem eine einschneidende Änderung mit sich: Es durfte wieder Bier verkauft werden. Der Wars-Gast, der da nun am Büfett des Schnellzugs Stettin–Warschau stand, schien zweifellos Großabnehmer gewesen zu sein, wie sein leicht stierer Blick und die unsichere Aussprache verrieten. Davon abgesehen war er ungewöhnlich bleich. „Ich sage Ihnen“, betonte der bleiche Bierkonsument nun schon zum dritten oder vierten Mal, „in meinem Abteil sitzt ein Monster.“

Der Kellner nickte verständnisvoll und bediente den nächsten Gast. „Ein deutsches Monster!“ betonte der schwankende Kunde. Woher er das wisse? „Es spricht deutsch.“ Das Überzeugende an dieser Logik entging auch dem Kellner nicht, und er entschloß sich, nun doch Näheres in Erfahrung zu bringen. „Und woher weißt du, daß es ein Monster ist?“ – „Es fuchtelt mit einer Pistole herum.“

Aha. Ein deutschsprechendes Monster also, das in einem Zugabteil mit einer Pistole herumfuchtelt. Es gibt jede Menge Kriegsfilme in Polen, die man mit diesem Satz zusammenfassen könnte. Mit ein bißchen zuviel Bier in den Adern und etwas Einbildungskraft können daraus jederzeit Alptraumphantasien werden.

Hätte sich da nicht der Zugführer über den Bordlautsprecher zu Wort gemeldet mit dem dringenden Aufruf an alle eventuell im Zug befindlichen Polizisten, sich zum mittleren Waggon zu begeben. Dann hielt der Zug in Kutno, ein Ambulanzwagen raste den Bahnsteig entlang, verschwand wieder, und der Zug hatte anderthalb Stunden statt anderthalb Minuten Aufenthalt.

Man kennt das ja, die polnischen Eisenbahnen waren noch nie pünktlich. Dann ruckte der Zug, fuhr an, und der Zugführer entschuldigte sich für die Verspätung. Es hätte eine kleine Schießerei gegeben, die die Einhaltung der Fahrplans unmöglich gemacht habe. Das war seit Menschengedenken mit Sicherheit die originellste Ausrede eines polnischen Bahnbeamten für eine Verspätung.

Das fand auch Aneta, als sie wieder in Warschau zurück war und die ganze Geschichte lachend und kopfschüttelnd über soviel Phantasie zum besten gab. Wahrscheinlich wäre sie bis heute bei dieser Version geblieben, hätte sie nicht zufällig das Radio eingeschaltet und jene Meldung vernommen, die davon berichtete, wie eine Gruppe deutscher Ganoven unter Verwendung mehrerer Schußwaffen im Schnellzug Stettin–Warschau begann, systematisch Abteil für Abteil auszurauben und bei Eintreffen im Bahnhof Kutno Geiseln zu nehmen. Anschließend gab es eine kleine, wildwestmäßige Verfolgungsjagd durch die Stadt, bei der ein Polizist angeschossen und die Deutschen festgenommen wurden.

Nein, wir werden nie wieder den Ausdruck „polnische Verhältnisse“ in den Mund nehmen, wenn wir von einem Überfall in Polen lesen. Nie wieder werden wir auch nur im hintersten Winkel unseres Gehirns daran denken, jemand könne zu tief ins Glas geguckt haben, nur weil er behauptet, ein deutsches Monster fuchtle mit einer Pistole in der Gegend herum. Schließlich weiß jeder vernünftige Mensch, daß man von Bier eine rote Gesichtsfarbe bekommt. Und der Mann im Wars war die ganze Zeit über leichenblaß gewesen. Klaus Bachmann

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