Nebensachen aus Tokio: Demokratie für Schmuddelkinder
■ Wo die Korruption in Japan ihre Grenzen hat/ Auch Bayern ist keine Diktatur
Tokio (taz) – Japan, eine Demokratie? Wer hat daran eigentlich je geglaubt? Längst haben sich die amerikanischen Lehrmeister enttäuscht von Japan abgewandt. Aus dem braven Musterschüler von einst ist eine korrupte Bestie geworden, die der wirtschaftliche Erfolg obendrein gefährlich macht. Bestochen von der Yakuza, gehätschelt von Bürokraten, tüchtig wie die Ameisen – das sind angeblich die Japaner, aber Demokraten, freie Bürger, Citoyens? Nein.
Gehörte es in diplomatischen Kreisen des Westens vor zehn Jahren noch zum guten Ton, Japan zu den westlichen Demokratien zu zählen, ist heute das Gegenteil der Fall. Wer gelinde urteilt, spricht vom „Einparteiensystem“, doch darüber hinaus ist jede Systemqualifikation zugelassen: „Yen-Diktatur“, „MITI- Planwirtschaft“, „Bürokratenherrschaft“, „Yakuzasystem“.
Nicht alle Vorwürfe sind falsch. Seit der Mann, der Nippon die letzten sieben Jahre lang regierte, im Knast sitzt, zweifeln auch die Japaner an ihrem politischen System. Shin Kanemaru, der desavouierte Ex-Fraktionschef der Liberaldemokraten, herrschte über Parlament und Kabinett, über Baufirmen und Yakuza, die ihm Aberdutzende Millionen Mark zutrugen. Von dem einzelnen Mann an der Spitze auf das gesellschaftliche Ganze zu schließen, wie das derzeit an Tokioter Stammtischen Mode ist, wäre dennoch grundverkehrt.
Wie Demokratie in Japan auch funktioniert, bekamen wir kürzlich in unserem Tokioter Stadtbezirk vorgeführt. Bezirksratswahlen standen vor der Tür. 35 KandidatInnen aus fünf Parteien gingen ins Rennen. Drei habe ich kennengelernt. Eine 25jährige Sozialistin, von der Feministin Mariko Matsui unterstützt, fand Gefallen am Tragetuch für meinen Sohn. Im Park begegnete mir, ebenfalls mit Kind, ein Kandidat der buddhistischen Komei-Partei, Nippons größter politisch-religiöser Sekte. Er erklärte mir seine Familienpolitik, wobei ich nur so viel verstand, daß er die Zahl der Kindergarten- und Kindertagesstättenplätze als viel zu gering betrachtet.
Zielsicher traf er damit den Punkt, der bei uns Interesse weckt. Louis ist zehn Monate alt und soll in die Kindertagesstätte. Genau aus diesem Grund beteiligte sich unsere Familie am Bezirkswahlkampf. Yasuko Kurosaki, unsere Kandidatin, für die wir Plakate klebten, war vor fünfzehn Jahren im Gründerkreis der alternativen Kindertagesstätte mit dem schönen Namen „Doronko“, zu deutsch: Schmuddelkinder. Zu denen wird Louis bald gehören, und wir dachten, eine entsprechende politische Vertretung könnte ihm nicht schaden.
Die letzten zwei Wochen vor der Wahl verging kein Tag, an dem nicht die Lautsprecherwagen der Parteien am Kartoffelacker vor unserer Haustür hielten, um ihr Programm vorzustellen. Sogar von Kanemaru war dann die Rede. Die zukünftigen Bezirksräte wollten offenbar nicht mit seiner Geldpolitik in Verbindung gebracht werden. Ansonsten ging es um die Erweiterung des Parks, die Kläranlage etc. Kein Thema, das deutsche Abgeordnete beschäftigt, fehlt im Tokioter Bezirkswahlkampf.
Man muß daraus nicht gleich den Schluß ziehen, daß sich die demokratischen Verhältnisse in Japan und Europa gleichen. Aber vieles ähnelt sich auffällig, nicht nur auf kommunaler Ebene. Spielte der Übervater Kanemaru nicht eine ähnliche Rolle wie seinerzeit Strauß in Bayern? In München regiert die CSU etwa so lange wie die LDP in Tokio. Doch deshalb muß man Bayern nicht zur Diktatur erklären.
Zurück zum Tokioter Bezirksrat: Natürlich reichten die Stimmen für Yasuko nicht. Trotzdem zogen acht Frauen in den Bezirksrat und stellen jetzt ein Drittel der Ratsmitglieder. Die junge Sozialistin ist auch dabei. Georg Blume
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