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■ Nebensachen aus TokioEmanzipierte japanische Säuglinge

Es ist oft genug mit einem Lächeln behauptet worden, JapanerInnen seien, wenn sie in das Studentenalter eintreten, im Vergleich zu ihresgleichen im westlichen Auslandunerfahren und naiv, ja geradezu unselbständig. Die in diesem Alter besonders reisefreudigen JapanerInnen ließen sich im Ausland allzuleicht verführen, berauben und mißbrauchen. Daran muß dann wohl die zur Unselbständigkeit führende Erziehung von Kindern in Japan schuld sein.

Ich will dem hier gar nicht widersprechen, aber doch die unter Umständen für uns viel interessantere Beobachtung hinzufügen, daß sich auf die gleiche Art und Weise behaupten läßt, EuropäerInnen seien unerfahren, naiv und unselbständig, wenn man den Vergleich nur bei den etwas jüngeren ZeitgenossInnen, etwa im Säuglings- und Kleinkindalter antritt. Hier scheinen die jungen JapanerInnen durchweg einen „erwachseneren“ Eindruck zu erwecken, als ihre europäischen AltersgenossInnen.

Einen Indikator dafür liefern Besuche deutscher Freunde mit Kindern in Tokio. Wie verwundert und erschrocken reagierten erst kürzlich unsere japanischen Gäste, als der dreijährige Hausbesuch aus Deutschland sich am Abend mit Pampers und Schnuller zur Nacht verabschiedete. Später wurde ich von den selben Gästen gefragt, ob denn alle Dreijährigen in Deutschland noch Windeln tragen müssen, und wie es möglich sei, daß man Kindern den Schnuller gebe, was in Japan nur die Großmütter getan hätten. Da fehlten mir als deutsch-erziehendem Vater die richtigen Antworten.

Nun fiel mir auf, daß in unserer alternativen Kindertagesstätte in Tokio nie ein Schnuller zum Einsatz gekommen war, obwohl die Kinder dort schon ab dem frühen Säuglingsalter verkehren. Das gleiche gelte auch für die mit weniger Personal ausgestatteten öffentlichen Krippen, betonten unsere Erzieherinnen. Fälschlich hatte ich zudem angenommen, daß der Gebrauch (und das Waschen) von Mullwindeln auch in Japan nur ein Hobby der Umweltbewußten sei, und wurde belehrt, daß hier alle Kindertagesstätten so verfahren, obwohl diese so zahlreich sind, daß keine Platznot herrscht. Indessen löste meine Bemerkung, daß sich in Deutschland nun auch Öko-Pampers im Handel befänden, unter den anwesenden Frauen Belustigung aus.

Zugleich ist zweifelsfrei festzustellen: mit zweieinhalb Jahren haben die meisten JapanerInnen ihre Windeln abgelegt – wofür man in Deutschland vor allem Bewunderung bezeugen wird. Neben dem Schnuller, der in manchen Baby-Abteilungen japanischer Kaufhäuser gar nicht mehr erhältlich ist, haben viele Kinder auch die Babyflasche mit Nuckel nie zu fassen bekommen. Sogar das Fingerlutschen bei Kleinkindern ist eher die Ausnahme. Keine Frage also: japanische Säuglinge emanzipieren sich schneller, sie müssen offenbar weniger Ersatzbedürfnisse befriedigen.

Erklärungen dafür sind leicht zu finden: „Japanische Kinder bleiben länger an der Brust“, behauptet Franziskanerpater Lukas nach 30 Jahren Gemeindearbeit mit Frauen in Japan. Damit ist nicht nur die reine Stillzeit der Mutter gemeint. Was es in Japan nämlich nicht gibt: Kinderbetten und Kinderwagen, jene Haftanstalten für Säuglinge und Kleinkinder, die es deutschen Eltern immer wieder ermöglichen, ihr Kleines einfach „abzulegen“. Ganz bewußt werden diese teuren Importgüter westlicher Erziehungskultur in Japan rigoros abgelehnt.

Da es japanischen Eltern nach Ansicht unserer Krippenmitarbeiterin in der Regel fernliegt, „ihr ganzes Leben im gleichen Hochzeitsbett zu verbringen“, und frau in Japan im übrigen der Auffassung sei, daß „der Mann nach der Geburt woanders schlafen kann, das Kind aber nicht“, sei im Ergebnis „die körperliche Erziehung während der ersten Lebensjahre in Japan intensiver als im Westen“. Wahrscheinlich hat die Frau recht. Schnullerliebe und Windelbedürfnis sind gewiß kein Beweis fürs deutsche Kleinkindglück, eher das Gegenteil. Körperliche Liebe macht erwachsen – das gilt eben auch für Säuglinge.

Fragt sich nur, wieviel die JapanerInnen mit ihrem frühen Vorsprung fürs Leben rausholen. Am Ende rauchen sie mehr Zigaretten als alle anderen Völker auf der Welt – obwohl ihnen früher niemand den Schnuller reichte. Georg Blume

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