Nebensachen aus Moskau: Lenin und die Aeroflot
■ Über die informationspropagandistische Arbeit mit ausländischen Passagieren in der zivilen Luftfahrt
Früher, in der Sowjetunion noch, war der Ausländer besonders privilegiert. Über mangelnde Aufmerksamkeit konnte er sich nicht beklagen. Ein unbestrittener Vorteil bestand in der gesonderten Abfertigung beim Reisen. Die Aeroflot checkte Fremde und Einheimische getrennt und mit unterschiedlichem Service ein.
Die Praxis auf russischen Flughäfen heute hat sich nicht geändert. Hoffen wir zumindest. Doch in der Ausländerlounge im tatarischen Kasan gibt es an diesem frühen Morgen weder Kaffee noch ein anderes Stimulans für die Privilegierten. Unruhig sucht das Auge so nach Halt. Tatsächlich findet es ein Bonbon. Eine blaurote Broschüre zum Thema „Methodische Empfehlung bei der Organisation und Durchführung informationspropagandistischer Arbeit mit ausländischen Passagieren in der zivilen Luftfahrt“. Geschrieben 1983 und sage und schreibe 87 Seiten stark. Die umfangreiche Literaturliste verrät, wie viele Gedanken sich Marx/Engels, Lenin sowieso, zur Unterweisung ausländischer Flugpassagiere schon gemacht haben. Es geht also nur noch um die Operationalisierung. Eigentlich war die Broschüre nicht für den Aushang bestimmt. Man erfährt eine Menge über den Überzeugungsauftrag der Crew. Eine Stewardeß ist nicht nur eine Stewardeß. Dem Piloten – oder „Kommandeur der Brigade“ – soll es nicht genug sein, die Fluggäste sicher an den Bestimmungsort zu bringen. Angesichts der hochkomplexen Aufgabenstellung der Flugbegleiter läßt sich im nachhinein Verständnis für gewisse Mängel in der Serviceleistung aufbringen.
Unversehens findet sich der Leser unter den „ideologischen Diversanten des Westens wieder“, wenn er etwa über das „nach seiner Meinung nicht ausreichend hohe Serviceniveau der Aeroflot“ klagt. Die Westreisenden sind nicht alle gleich übel. Es gibt der UdSSR wohlgesinnte, neutrale und natürlich feindlich eingestellte. Sie zeichnen sich durch provokante Fragen aus, über den Eurokommunismus, sowjetische Hilfe an die Dritte Welt, das sowjetisch-chinesische Verhältnis oder Polen und Afghanistan. Dem Schulungspersonal wird geraten, bei derartigen und ungewöhnlichen Fragen freundlich zu bleiben, aber „auf keinen Fall die eigene Meinung“ zu sagen: „Zur Zeit liegen mir keine Informationen vor, aber ich werde mich in der entsprechenden Literatur sachkundig machen und Ihnen das nächste Mal...“ Im Cockpit wurde dann Buch geführt: Datum, Charakteristika des Passagiers, gestellte Frage, Antwortgeber.
Sozialpsychologische Besonderheiten wurden nicht einfach ignoriert. Mit den Deutschen aus beiden Teilen hatte es die Crew besonders schwer. „Pünktlichkeit schätzen Deutsche und Holländer hoch ein. Vergleichsweise wenig bedeutet sie in Spanien und noch viel weniger in Ländern Lateinamerikas.“
Wirklich zu kämpfen hatten die „Politoffiziere“ mit den Deutschen aber auf dem Feld der Information: „Die Deutschen sind ein pedantisches Volk. Sie lieben es, alles zu lesen und in Zahlen zu kleiden. Jedem anderen Ausländer würde es ausreichen zu erzählen, daß Moskau das größte industrielle Zentrum des Landes ist...“ Und was wollen die Deutschen – während man „Franzosen und Italiener mit wohlklingenden Daten über das Wohnungswesen“ versorgt – so genau wissen? „Der Deutsche fordert unbedingte Präzisierung... welche Fabriken, Unternehmen, wohin geht die Produktion... Arbeitsplätze...“ Kein Wunder, die Mitarbeiter fühlten sich überfordert. Diese Linie konnten nur „breiter Informierte“ bedienen. Für die anderen hatte Lenin längst alles über die Schwierigkeit und Überflüssigkeit der Verwendung von Zahlen im Vortrag gesagt: „Gesammelte Werke, Bd. 42, Seite 149“. Klaus-Helge Donath
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