Nahverkehr: Behinderte werden behindert
Der Begleitservice für behinderte und ältere Menschen in Bus und Bahn wird eingeschränkt. Weder Verkehrsverbund noch der Senator fühlen sich verantwortlich.
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"Sollen behinderte Menschen jetzt um 18 Uhr ins Bett gehen?" Sandy Krohn vom Berliner Behindertenverband ist empört: Der Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg (VBB) bietet den Begleitservice für Bus und Bahn seit diesem Monat nur noch werktags von 7 bis 18 Uhr an. In den Abendstunden und am Wochenende fällt der Dienst, den vor allem behinderte und ältere Menschen in Anspruch nehmen, komplett weg. "Für alle, die keinen privaten Chauffeur haben, heißt das: Zuhause bleiben", befürchtet Krohn.
Seit 2008 gibt es den kostenlosen Begleitservice des VBB. Die Mitarbeiter mit den roten Jacken holen "mobilitätseingeschränkte Menschen" an der Wohnungstür ab und begleiten sie mit Bus und Bahn zum Arzt, zu Veranstaltungen und zur Arbeit. Viele Blinde, Sehgeschädigte oder Epileptiker nutzen den Service, weil sie sich lange und komplizierte Strecken nicht alleine zutrauen und keine Berechtigung für den als Telebus bekannten Sonderfahrdienst haben.
Erst im Sommer vergangenen Jahres hatte der VBB den Begleitdienst auf ein tägliches Angebot von 7 bis 22 Uhr ausgeweitet. "Denn der Bedarf ist groß", sagt selbst VBB-Sprecherin Elke Krokowski. 40.000 Begleitungen hat man beim VBB seit der Einführung gezählt. Doch Ende Januar lief fast die Hälfte der 100 Begleitservice-Stellen aus. Der VBB hatte sie über den Öffentlich geförderten Beschäftigungssektor (ÖBS) finanziert. Weil der Bund die Mittel für Arbeitsmaßnahmen drastisch gekürzt hat und sich der rot-schwarze Senat entschlossen hat, den ÖBS nicht weiterzuführen, gibt es bislang keine Anschlussfinanzierung. "Der Begleitservice ist ein schönes Zusatzangebot. Aber ohne staatliche Förderung haben wir dafür kein Geld", sagt Krokowski vom VBB.
UN-Behindertenrechtskonvention, Artikel 9 (Barrierefreiheit): "Um Menschen mit Behinderungen ein selbstbestimmtes Leben und die volle Teilhabe in allen Lebensbereichen zu ermöglichen, treffen die Vertragsstaaten geeignete Maßnahmen mit dem Ziel, für Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen Zugang zur physischen Umwelt, zu Transportmitteln, Information und Kommunikation zu gewährleisten."
In Deutschland ist die Behindertenkonvention im März 2009 in Kraft getreten und damit verbindliches Bundesgesetz. Berlin hat sich zur unverzüglichen Umsetzung verpflichtet.
Der Behindertenbeauftragte des Senats, Jürgen Schneider, ist entrüstet: "Es darf nicht sein, dass dieses notwendige Angebot von der Konjunktur irgendwelcher Arbeitsmarktprogramme abhängig ist." Schneider sieht die Verkehrsbetriebe als öffentliche Unternehmen in der Pflicht. Diese müssten gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen Bus und Bahn benutzen können. "Wir werden diese Einschränkungen nicht widerspruchslos hinnehmen", kündigt auch André Nowak, stellvertretender Vorsitzender des Behindertenverbands, an. Spätestens mit der seit 2009 geltenden UN-Behindertenrechtskonvention sei klar, dass sich die Gesellschaft nach den Bedürfnissen der Menschen mit Behinderungen richten müsse und nicht umgekehrt. Solange die Stadt nicht barrierefrei ist, sei der Senat dafür verantwortlich, dass Menschen mit Behinderungen die Barrieren überwinden können. "Da haben wir jetzt einen Sozialsenator von der CDU und die Leute können sonntags nicht mal zum Gottesdienst fahren", so Nowak.
Die Verwaltung von Sozialsenator Mario Czaja (CDU) sieht sich laut eigener Homepage "in besonderem Maße gefordert, die Lebensbedingungen von Menschen mit Behinderung zu verbessern, bestehende Barrieren abzubauen und eine gleichberechtigte Teilhabe im beruflichen wie im sozialen Bereich zu sichern". Für den aktuellen Fall fühlt man sich allerdings nicht zuständig. Auf Anfrage heißt es: "Der Verkehrsträger muss selbst dafür sorgen, dass alle Verkehrsteilnehmerinnen und -teilnehmer sicher und möglichst barrierefrei befördert werden. Dies gilt umso mehr für Menschen mit Behinderungen." Wenn überhaupt, dann sei die Arbeitssenatorin zuständig.
Doch Dilek Kolat (SPD) sieht das anders. "Geförderte Arbeitsmaßnahmen werden immer befristet sein und sind nicht dazu da, soziale Projekte dauerhaft zu finanzieren", betonte die Arbeitssenatorin gegenüber der taz. Weil ihr das Projekt aber am Herzen liege, versuche sie, zusammen mit VBB und den Jobcentern eine Anschlussfinanzierung des Begleitservice zu finden. Bislang sei aber noch nichts spruchreif.
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