Nahles über Bildungspolitik: "Es geht um eine Grenze nach unten"
SPD-Politikerin Andrea Nahles fordert eine "neue vorsorgende Philosophie in der Arbeitsmarktpolitik" - obwohl Bildung eigentlich Ländersache ist.
taz: Frau Nahles, ist Ihr Arbeitsminister durch seinen Job nicht ausgelastet?
Andrea Nahles: Wie kommen Sie denn darauf?
Er macht jetzt auch Bildungspolitik. Olaf Scholz will einen Rechtsanspruch einführen, den Hauptschulabschluss nachholen zu dürfen.
Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik müssen mehr ineinandergreifen. Die Arbeitsmarktpolitik kommt nicht umhin, nachzuholen, was die Schulen nicht geschafft haben. Jahr für Jahr verlassen fast 80.000 Jugendliche die Schulen ohne Abschluss. Sie sind im Wettbewerb um Ausbildungsstellen so gut wie chancenlos und werden so zu einer Dauerbelastung für die Sozialkassen. Entsprechend brauchen wir eine neue vorsorgende Philosophie in der Arbeitsmarktpolitik.
Aber hilft ein Hauptschulabschluss wirklich weiter? Ganze Klassen wandern in die Arbeitslosigkeit - trotz guter Noten.
Das ist leider wahr. Bei allen Arbeitssuchenden zumindest den Hauptschulabschluss zu forcieren ist eine Minimalmaßnahme. Aber darum ist sie nicht weniger wichtig: Es geht darum, eine Grenze nach unten einzuziehen. Keiner darf durchs Raster fallen, für dieses Ziel müssen sich die politischen Felder stärker vernetzen.
Es gibt in Deutschland die Schulpflicht, bereits jetzt bietet die Arbeitsagentur Abbrechern Möglichkeiten, Abschlüsse nachzuholen. Wofür also den Rechtsanspruch?
Er stärkt die Position der Arbeitssuchenden. Jeder Arbeitslose kann in Zukunft zu seinem Vermittler gehen und einen neuen Anlauf für den Abschluss einfordern. Der Effekt ist nicht zu unterschätzen: Wenn ein Jugendlicher, der in der Schule immer nur gescheitert ist, plötzlich in einer Förderung mit Berufspraxis doch noch den Hauptschulabschluss erwirbt, wertet das sein Selbstbewusstsein stark auf. Das kann, ich habe das oft gesehen, die Wende für ein ganzes Leben sein.
Dennoch schafft nicht jeder den Abschluss, so toll die Förderung auch ist.
Sicher. Wir zwingen ja künftig nicht alle Arbeitslosen ohne Schulabschluss auf die Schulbank. Es gibt zum Beispiel viele Analphabeten in Deutschland, deren Förderungsbedarf ist ein ganz anderer. Welche Hilfe geeignet ist, entscheiden Vermittler und Arbeitsloser gemeinsam.
Bildungspolitik ist Ländersache. Hebeln Sie den Föderalismus aus?
Politik muss doch vor allem die Bedürfnisse der Menschen im Blick behalten. Wenn jemand Hilfe dabei braucht, Arbeit zu finden, muss ihm die Politik ein Angebot machen. Natürlich kann man auch strikt ordnungspolitisch argumentieren, dann wären der Bund und die Bundesagentur erst einmal nicht am Zuge. Aber das finde ich kleinkrämerisch. Hilfe muss da ansetzen, wo die nächste Hürde genommen werden muss. Und das ist oft der Hauptschulabschluss.
Auch die Länder bieten nachholende Qualifikationen an.
Sie fahren ihre Angebote leider seit Jahren zurück.
Sie wollen Mittel der Arbeitslosenversicherung in die Bildung stecken. Was sagen Sie den Beitragszahlern?
Den Beitragszahlern sage ich: Sie machen ein gutes Geschäft. Es ist doch erheblich günstiger, Arbeitslose zu qualifizieren und in Jobs zu bringen, als sie jahrzehntelang zu alimentieren.
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