■ Nach der Leichtathletik-WM erhöht sich das Olympiafieber: Die Hauptstadtpresse läuft gelb an
Noch sind die Braun- und Eisbären der Berliner Zoos nicht gelb umgespritzt, noch schaut nicht aus jedem Fenster des Plastik-Stadtschlosses das olympische Grinsegesicht. Die Aufmacherseiten der Hauptstadtpresse aber leiden unter schwerster Gelbsucht. Spätestens seit dem Erfolg deutschen Organisationstalents bei der Leichtathletik-WM in Stuttgart und der Visite des IOC-Chefs Samaranch in Berlin kennen Der Tagesspiegel (Holtzbrinck) und Springers Morgenpost kein Halten mehr. Der „nationalen Aufgabe“ Olympia 2000 wird jegliche journalistische Distanz geopfert.
Da wird das immergleiche Samaranch-Interview jeden Tag aufs neue in Kurzmeldungen verwurstet. Da werden Prognosen des Wirtschaftsministers zu Wahr- und Gewißheiten hochgejubelt. In anzeigenschwangeren „Olympia-Beilagen“ beschreibt der Regierende Bürgermeister Diepgen, wie er im Jahre 2000 als „Ehrengast“ im überdachten Olympiastadion das „Topklima“ genießt. Neben solchen kühnen Visionen von der Führerloge werden in Leitartikeln des Tagesspiegels Olympia-Kritiker als „soziale Neider“ abgemahnt, deren Widerspruch „kleinlich“ und „larmoyant“ sei. Mit dem Bürgerkrieg in Bosnien im Hinterkopf träumt der Chef vom Dienst von olympischer Waffenruhe zur Jahrtausendwende.
Das Leichtathletikspektakel hat für den Tagesspiegel den häßlichen Deutschen erledigt: „So sehr man sich für Mölln, Solingen oder Hoyerswerda schämen mußte, so stolz darf man auf Stuttgart sein. Es zeichnete das schönere Bild Deutschlands in schwieriger Zeit.“ Die Morgenpost bewältigt deutsche Vergangenheit und Gegenwart simultan. Sie schreibt von „friedlicher Feststimmung“ als „wohltuendes Korrektiv mancher Schatten, die in der letzten Zeit auf den Namen Deutschlands gefallen sind“. Stuttgart habe ein Deutschland gezeigt, „weit entfernt von der nationalistischen Begleitmusik der olympischen Spiele 1936 in Berlin“. Positiv rassistisch orakelt Springer- Mann Rudolf Stiege: „Ja es scheint, als wollten die Zuschauer gerade die farbigen Sportler in eine besondere Aura der Sympathie hüllen.“
Natürlich marschieren in der Einheitsfront auch die elektronischen Medienmenschen mit: Günther Jauch vom ZDF-Sportstudio macht Sprachtraining mit Diepgen für den Tag der Entscheidung in Monte Carlo. Der Sender Freies Berlin (SFB) läßt in seinem „Sport-Palast“ regelmäßig eine Countdown-Uhr ticken, die die Tage, Stunden und Minuten des „Schicksalsmonats Berlins“ bis zum 23.September anzeigt. Und wie Igel und Hase zugleich war das olympisch-loyale SFB-Team beim Samaranch-Besuch natürlich schneller vor Ort als die Kollegen der „Tagesschau“. Die durften bei der Pressekonferenz des IOC-Oberhaupts draußen vor der Tür bleiben. Ende August wird das Berliner Gelb dann in alle deutschen Wohnstuben strahlen: Bei den Sportsendungen der ARD von der Internationalen Funkausstellung grüßt aus den Kulissen ein Olympiabär. Aufblasbar und zehn Meter hoch. Hans-Hermann Kotte
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