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Nach UmstrukturierungenSelbstmordserie bei France Télécom

23 Selbstmorde in 18 Monaten. Nach dieser erschütternden Serie bei France Télécom hat sich die französische Regierung eingeschaltet: Die Konzernspitze müsse nach den Ursachen forschen.

Wer ist schuld - die Arbeitsbedingungen, der Zufall oder die Statistik? Bild: ap

PARIS dpa/afp | Nach einer Serie von Selbstmorden bei France Télécom hat die französische Regierung den Konzern zum Dialog mit seinen Mitarbeitern aufgefordert. Die Unternehmensleitung müsse alles tun, um herauszufinden, ob die Umstrukturierungen Auslöser der Selbstmorde seien, sagte Wirtschaftsministerin Christine Lagarde am Montag dem Sender France 3.

Sie habe den Télécom-Chef gebeten, umgehend einen Verwaltungsrat einzuberufen. "Wir brauchen eine starke Botschaft von der obersten Ebene an alle Mitarbeiter", sagte die Ministerin.

In den vergangenen 18 Monaten haben sich nach Gewerkschaftsangaben 23 Beschäftigte das Leben genommen. Zuletzt stürzte sich am Freitag eine 32-Jährige während der Arbeitszeit aus dem Fenster. Arbeitsminister Xavier Darcos will am Dienstag mit Unternehmenschef Didier Lombard über die Selbstmordserie sprechen. Künftig sollen die Betriebsärzte soweit es die Schweigepflicht erlaubt psychisch labile Mitarbeiter melden.

Die französische Zeitung La Montagne aus Clermont-Ferrand im Zentralmassif befasst sich nach der Selbstmordserie mit Stress am Arbeitsplatz: "Was für ein grausames Paradox, dass einem Meister des Telefons vorgeworfen wird, kein Ohr für seine eigenen Angestellten zu haben! Am Pranger steht ein Management, das im Namen einer bestimmten Vorstellung von Produktivität einige Beschäftigte wie Schachfiguren herumschiebt und sie jede Selbstachtung verlieren lässt.

Doch France Télécom, dieses ehemals staatliche Unternehmen, ist kein Einzelfall. Auch in anderen Betrieben gab es ähnlich dramatische Fälle. Der Stress am Arbeitsplatz stellt die Grundlagen des Leistungsprinzips selbst in Frage."

Die Gewerkschaften gehen davon aus, dass ein Teil der Selbstmorde direkt auf die Arbeitsbedingungen und den Konzernumbau bei France Télécom zurückzuführen ist. In den vergangenen Jahren wurden 22.000 Stellen abgebaut und 7000 Mitarbeiter versetzt.

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9 Kommentare

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  • O
    Orléans

    Die Suizide sind das Resultat eines brutalen Übergangs vom Beamtentum zu neoliberaler Personalwirtschaft. Da wurde, beispielsweise, einem technischen Kundenbetreuer plötzlich ein völlig anderer Arbeitsplatz zugewiesen, nämlich Kaltakquise in einem Télécom-Callcenter. Das ist nicht jedermanns Sache, die Leute fühlen sich entwertet und sehen sich als reinen Kostenfaktor eines neuen Buchhaltersystems. In kurzen Worten: Wer ein schwächeres Selbstwertgefühl hat, 25 Jahre an seinen Arbeitsplatz gewöhnt ist und keine Wahl auf dem Arbeitsmarkt hat, kann ohne weiteres in eine psychische Krise geraten. Das passiert in Deutschland auch, in Massen.

  • DH
    Dr. Harald Wenk

    Die Überidentifikation mit der gesellschaftlichen Anerkennung, speziell durch den Beruf wird gesellschaftlich von konservativer aber leider von ewtas fehlinterpretierenden Linken des Anteils der Arbeit an der Menschwerdung des Affen doch allzustark vorangetrieben.

     

    Noch schlimmer kommt hinzu: Aufgrund des

    stark überdeterminierenten üblichen extrem unproblematischen "göttergleiche freier Wille"

    Bezugs zu "sich", haben die Menschen nicht die geringste Idee, geschweige den praktischen Umgang damit, wann welche Idee, so zum Bespiel die eines Selbstmordes, in ihnen auftaucht.

    Dieser Mangel an "Erkenne dich selbst", vor allem seiner Affektwelt, und "mache dich selbst" durch eine Kultuvierung, eine "Gartenpflege" deiner Gefühle und Gedanken, rächt sich dann bitter.

    Hoffentlich führt die "Meldung labiler Mitarbeiter" nicht dazu, sie zu psychiatrisieren.

    Das ist nämlich noch weniger hilfreich, auch für die gesellschaftftliche Anerkenung, auch die durch Arbeit.

     

     

    Die Defensive, in der der Einzelne gegenüber der Gesellschaft steht und deshalb juristische und informell ein Grundrecht braucht, dass man ihm nicht ganz so schnell wegnehmen kann, wie seinen Arbeitsplatz zum Beispiel, bildet den Hintergrund des unproblematischen, undiffernziert identifikatorischen "freier Wille" Bezug zu seinen Ideen.

     

    Nicht nur durch die Überidentifkation

    wird zu fatalen Strategien gedrängt.

     

    Die Defensive wir genährt durch dauernden tatsächliche größeren oder kleineren

    Übergiffe, auf die Lebenswünsche und Integrität der Menschen. Mikromächte.

     

    Ein Arbeitsplatz schöpft das Leben nicht aus.

    Wie eine Kaffetasse einen Ozean nicht ausschöpft.

    Zu spät, du rettest da nicht mehr........

  • JK
    Juergen K.

    Hier, in Deutschland versucht jede 4 SeKunden ein Mensch sich seines Leibes

     

    wegen ARMUT und Perspektivlosigkeit zu entledigen.

     

    Die UNTERSUCHUNGEN der BUNDESREGIERUNGEN bleiben sicher nur so lange aus, bis das Zahlenmaterial SO GROSS ist, dass eine Statistische Auswertung wissenschaftlich fundiert, dass heisst ebenfalls auch von Gegengutachten widerlegbar ist.

  • D
    dietah

    Und ich hatte immer vermutet dies sei ein typisches Problem des Deutschen Michels...

    Den hanebüchenen Schwachsinn der heutzutage in Unternehmen/ Behörden kursiert allzu ernst zu nehmen.

    Und bückende Prostitution mit Lebenssinn verwechseln.

    "Benötigt" wenn ich das schon lese.

     

    Eine Produzent wird immer mehr Kunden als Mitarbeiter benötigen.

    Diese einfache Wahrheit wird nicht anders werden, nein dieser Prozess wird sich noch verstärken.

    Und das ist seit der industriellen Revolution so.

     

    *kreisch* Das ist der nämlich der Sinn der industriellen Produktion:)

     

    Also... Warum denken wir nach 200 Jahren und dem Erreichen des kapitalistischen Effizienzgrenze jetzt mal nicht wie Erwachsene über dieses Problem nach?

    Anstatt diesen Popanz mit Management Gefasel zu übertünchen und als nicht existent zu betrachten?

    Vielleicht kommen wir dann endlich mal weiter.

     

    Langsam ungeduldig,

    Dietah

  • M
    Mimi

    Zu den Vergleichszahlen:

    Die 23 Toten beziehen sich auf 90.000 Angestellte.

    Die Suizidrate bei der France Telecom ist damit doppelt so hoch wie in der restlichen Bevölkerung.

    siehe auch:

    http://diepresse.com/home/wirtschaft/international/503154/index.do

  • G
    Gerda

    Ein ähnliches Beispiel, das mir ein nunmehr ehemaliger Mitarbeiter der Fa. Siemens AG erzählt hat:

     

    Bei Siemens, dem mutmaßlich größten deutschen Unternehmen, finden demnach ständig irgendwelche vom Management verordneten Umstrukturierungen statt, die bei den Mitarbeitern zu Orientierungslosigkeit führen. Im Zusammenhang mit Personalabbau kommen außerdem Angst und Rivalitäten auf, die Gesundheitsstörungen verursachen.

     

    Der betreffende Mann, ein Betriebswirt, sagt, mindestens 40 % der Arbeitszeit gehe bei Siemens durch die genannten Missstände sinnlos verloren, obendrein bei miserablem Arbeitsklima.

     

    Was für eine "Rationalisierung", die irrationalen Leerlauf, Streit, Missbehagen, Arbeitslosigkeit, ökonomische Heimatlosigkeit und am Ende erhöhte Krankheitskosten "produziert"!

     

    Bei der France Télécom dürfte es ähnlich aussehen oder noch schlimmer.

  • T
    tram

    mhf2008 hat recht!

  • C
    Christian

    Was fehlt, und nicht nur hier, sind mal ein paar Vergleichszahlen. 23 Mitarbeiter in 18 Monaten klingt natürlich nach einer Menge. Sind ja auch 15 in einem Jahr. France Telecom hat nun allerdings 186.000 Mitarbeiter (weltweit). Das macht eine Selbstmordrate von 0,008 %. In Frankreich ist die Rate insgesamt allerdings mehr als doppelt so hoch: 0,018 %. So, nun bräuchte es mal einen Journalisten, der mal ein bissel weiterspielt mit den Statistiken und das mal ordentlich zusammenschreibt. Vielleicht sind die Selbstmordopfer ja ausschließlich Franzosen, und der Konzern beschäftigt in Frankreich nur 20.000 Menschen. Dann wärs in der Tat sehr heftig.

     

    mfg

  • M
    mhf2008

    Super, echt super ! Da wird genau das geschildert, was bei der Deutschen Telekom AG seit Jahren schon traurige Realität ist. Seit Gründung der Personalserviceagentur, die inzwischen von "Vivento" abgelöst wurde, hat es eine Vielzahl von Selbstmorden gegeben. Berichte - in der Presse - darüber sind mir nicht bekannt, hier wurde wohl alles unter den Tisch gekehrt. Tatsache ist, dass z. B. Beamten der rechtlich gegebene Anspruch auf amtsgemäße Beschäftigung verwehrt wird. Dies führt dazu, dass hochqualifizierte Kräfte mit absolut minderwertigen Tätigkeiten betraut werden. Niemand kann sich mehr sicher sein, dass er am morgigen Tag noch "benötigt" wird. Es wird ein starker Druck auf Tarifkräfte ausgeübt, damit diese sich abfinden lassen. Beamte werden aus dem Unternehmen gemobbt, dabei werden Existenzen zerstört, was viele an Suizid denken lässt. Beamtenhasser, die jetzt meinen, dass die Beamten nur das bekommen, was sie verdienen, denen soll gesagt sein, dass die Pensionen für die Frühpensionäre ( und die zuvor regulär in den Ruhestand eingetretenen Beamten ) weitgehend von den Steuerzahlern bezahlt werden. Aber das ist es Vater Staat ja auch wert, denn offiziell war die Zerschlagung der Deutschen Bundespost für alle ein großer Erfolg ! Bei der Bezahlung der nächsten Telefonrechnung also unbedingt bedenken, dass der Anteil für die Pensionäre der Deutschen Telekom AG dort nicht aufgelistet ist ...