Nach Grubenbeben im Saarland: Schicht im Schacht
Für die Kumpel im Saarland hat sich mit dem Beben das Leben geändert. Alte wie junge Bergbauspezialisten haben auf dem Arbeitsmarkt schlechte Karten.
Volker Hagelstein sieht die Sache realistisch. "Um 16.31 Uhr am Samstag hat sich für uns die Welt verändert", sagt der Werkmarkscheider der Ruhrkohle AG Deutsche Steinkohle AG (RAG-DSK). Der eloquente Ingenieur sitzt im Betriebsratsbüro Nordschacht im Abbaugebiet Primsmulde, Landkreis Saarlouis. Im Bergbau ist er für alle Angelegenheiten unter Tage zuständig, auch für die "Sicherheit der Anlagen drunter und drüber".
Seit dem großen Knall ist allerdings auch für Hagelstein erst mal Schicht im Schacht. Das Beben im Bereich Nordschacht, nahe dem 14.000-Einwohner-Städtchen Saarwellingen, hat die schlimmste Erschütterung aller Zeiten ausgelöst und bewirkt, dass der Betrieb sofort eingestellt wurde. Nur noch ein paar hundert Kumpel sind damit beschäftigt, die Gewerke betriebsbereit zu halten - falls es doch noch weitergehen sollte mit dem Kohlebergbau an der Saar. Die anderen bleiben daheim und werden wohl bald zunächst "in Kurzarbeit" gehen, wie Gerd Schäfer, der schwergewichtige Betriebsleiter "Abbau unter Tage", meint. Niemand wisse, wie es jetzt weitergehen soll. Die Kumpel, die Betriebsschlosser und Elektriker, die Kaufleute und Sekretärinnen könnten doch nicht einfach auf den ohnehin angespannten Arbeitsmarkt im kleinen Saarland entlassen werden. Da müsse es doch noch andere Lösungen geben, sinniert er.
Nach denen sucht Werkmarkscheider Hagelstein. Gefunden hat er neue Mitstreiter. Der zu allem bereite Betriebsrat etwa will die drohende Schließung nicht akzeptieren. "Die ganze Belegschaft" stehe hinter der Führung der RAG-DSK, glaubt der Arbeitnehmervertreter und Reviersteiger Mario Köbisch. Vorstandschef Bernd Tönjes nämlich hatte am Dienstag gesagt: "Wir werden alles daransetzen, das Bergwerk Saar wieder ans Laufen zu bringen." Der 48 Jahre alte Familienvater Köbisch ist seit 1974 Bergmann. "Woanders kriegen doch gerade wir älteren Bergleute garantiert keine neuen Jobs", sagt er, und auch die jüngeren Kollegen hätten als Bergbauspezialisten keine Chancen.
Das sieht auch Betriebsschlosser Frank Kirch so. Mit Blick auf das Ausstiegsgesetz, laut dem in zehn Jahren an Ruhr und Saar eh Schluss sein sollte mit dem hoch subventionierten Kohlebergbau, hat er sich schon mehrfach um neue Stellen beworben, etwa bei Ford in Saarlouis oder bei Peugeot in Saarbrücken. "Alles vergeblich, es hagelte Absagen", sagt der 39-Jährige, der zwei Kinder hat und noch sein Häuschen abbezahlen muss. Das "Gerede" von Auffang- oder Transferleistungsgesellschaften für die Bergleute von CDU-Ministerpräsident Peter Müller und seinem Wirtschaftsminister Joachim Rippel mache ihm im Moment eher mehr Angst, als er ohnehin schon habe, sagt Kirch. "Das sind doch alles Hirngespinste."
Die zwei Kumpel im Drillich mit Helm und Grubenlampe, deren Überwachungsschicht gerade zu Ende ist, klammern sich an die Hoffnung, den Bergbaubetrieb in einigen Wochen vielleicht doch wieder aufnehmen zu können. Natürlich, so Ingenieur Hagelstein, werde man nicht mit dem Abbau beginnen, wenn nicht ausgeschlossen ist, "dass erneut Menschenleben in Gefahr geraten". Doch mit einem aus der Erdöl- und Erdgasindustrie entlehnten Verfahren könnte man vielleicht die spannungsgeladene Sandsteinschicht, die die Katastrophe vom letzten Samstag ausgelöst hat, anbohren und dann kontrolliert sprengen. So würden schwerere Erdbeben ausbleiben. Natürlich, räumt Hagelstein ein, gebe es immer ein Restrisiko, aber das müsse man eben minimal halten. Im Moment entgeht der RAG-DSK jeden Tag eine Million Euro.
Von einem "Restrisiko" will Gerda Neumann nichts hören. Die 68-Jährige steht vor der wuchtigen Blasiuskirche in Saarwellingen, hinter dem Absperrgitter beseitigen Planierraupen und Kranwagen noch immer Trümmer. Am Samstag war die Dachgaube direkt über dem Kirchentor herabgestürzt. "Das sah aus wie nach einem Erdbeben in der Türkei, über das ich mal einen Bericht gesehen habe", erzählt sie. Wie 2.000 andere Menschen auch war sie noch am Abend der Katastrophe zur Kirche gekommen. Schwiegertochter und Enkelsohn hatte sie gleich mitgebracht "zum protestieren". Nur eine halbe Stunde vor dem Beben war ein Junge aus ihrer Nachbarschaft von der Bibelstunde in der Blasiuskirche nach Hause gekommen: "Hätte die länger gedauert, wäre der Bub jetzt vielleicht tot", sagt sie.
Sie kommt nun jeden Tag hierher, so wie viele andere, die noch immer nicht fassen können, "dass so was aus heiterem Himmel passieren konnte". Ein alter Mann neben ihr gibt ihr Recht: "Die haben doch immer gesagt, das sei nicht möglich." Gerda Neumann jedenfalls will, "dass das jetzt sofort aufhört", das Bergwerk müsse "für immer geschlossen werden".
Das meinen auch die Bürgermeister der betroffenen Kommunen Saarwellingen, Saarlouis, Dillingen, Lebach, Schmelz, Schwalbach und Nalbach. Sollte der Abbaustopp wieder aufgehoben werden, wollen sie mit einer einstweiligen Verfügung juristisch dagegen vorgehen. Wie es in ihrer gemeinsamen Erklärung heißt, sehen sie sich in der Pflicht, "Leib und Leben unserer Bürger nicht wieder den Gefahren eines weiteren Bebens auszusetzen". Schließlich sei das Potenzial für einen erneuten Erdstoß "immer noch vorhanden", sagt der parteilose Saarwellinger Bürgermeister Michael Philippi. Der Initiator der Resolution nennt die Erschütterung vom Samstag ein "Monsterbeben".
Risse in Treppenhäusern, Risse durch Hauswände, herabgestürzte Dachziegel und Schornsteinummauerungen - viele Saarländer haben Schäden zu beklagen. Manche von ihnen sind auch traumatisiert, sie müssen psychologisch betreut werden. Am Abend und in der Nacht nach dem Beben waren die Notärzte pausenlos im Einsatz. "Als die Erde zitterte, ging ich in die Knie, klammerte mich am Türgriff fest und schrie nur noch", schilderte etwa die Saarwellingerin Birgit Welsch, 48, der Saarbrücker Zeitung den Horror. Andere Betroffene können erst jetzt darüber sprechen.
Auch weiter entfernt hat das Beben Panik ausgelöst: "Alle Familienmitglieder sind aus dem Haus gerannt, wir standen minutenlang unter Schock", erzählt der Biolandwirt Matthias Paul aus Nalbach der taz. Dabei sei das Beben hier gar nicht mehr so heftig gewesen. Allerdings habe in seinem Ort schon im Januar die Erde gewackelt. Paul ist seit Jahren Mitglied der Interessengemeinschaft der Bergbaugeschädigten (Idbg), die gegen den Kohleabbau in der Primsmulde kämpft. "Die ganze Region ist doch längst untertunnelt", sagt er, bei weiteren Eruptionen könnte die Erdoberfläche einstürzen. Erdrutsche habe es hier schließlich auch schon gegeben.
Im Hofladen der Obstbauer- und Schnapsbrennerfamilie Latz am Stadtrand von Saarwellingen sind am Samstag alle Waren aus den Regalen gefallen. Flaschen zersplitterten, Dosen verbeulten, "es sah chaotisch aus", berichtet Chefin Carolina Latz. Sie will auch, "dass das aufhört", ist aber dennoch keine Bergbaugegnerin. "Wir wollen doch alle Strom haben." Die RAG-DSK beliefere doch nahezu alle Kraftwerke in der Region mit Saarkohle, es müsse also weitergehen - "aber sicher!" Dass arbeitslose Kumpel ohne Geld in der Tasche keine Kunden mehr sein werden, weiß Latz natürlich auch. "Da steht dann unsere Existenz auf dem Spiel."
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