NINA APIN LEUCHTEN DER MENSCHHEIT : Eine kleine Moral für Schwarzfahrer
Gott ist tot – und von der Philosophie, der Politik und der Kunst sind auch keine eindeutigen Antworten mehr zu erwarten. Wen aber soll befragen, wer sich nach einem moralischen Kompass sehnt, einem Gerüst für die ethischen Fragen des Zusammenlebens, einem Verhaltensleitfaden für den Alltag?
Zum Glück gibt es Rainer Erlinger, der sich im Magazin der Süddeutschen Zeitung wöchentlich zu den brennenden moralischen Fragen der Deutschen äußert. Interessant dabei ist, dass Erlinger weder Philosoph noch Religionstheoretiker ist, sondern promovierter Mediziner und Jurist. Aber einer mit Haltung, der sich nicht scheut, klare Handlungsempfehlungen auszusprechen. Und klare Worte für die Menschen findet, die sich an ihn wenden.
War es richtig, beim Putzen das Hitler-Porträt des Hausherrn nicht zu entstauben? Hätte ich der alten Dame ohne Reservierung meinen ICE-Sitzplatz abtreten sollen? Darf ich mir als Gegnerin der Todesstrafe das Internetvideo von der Hinrichtung Saddam Husseins ansehen? Erlinger findet: Ja, ja und: kommt auf die Motive der Betrachterin an. Seine persönliche Haltung unterfüttert Erlinger mit moralphilosophischen Klassikern: Kant, Epiktet, Arendt. Aber auch mit juristischen Urteilsbegründungen, Kirchenstatements oder psychologischer Fachliteratur.
Man könnte auch einfach nur Kant lesen. Aber was Erlingers „Moral“-Kolumnen (Fischer Verlag 2011) so unterhaltsam macht, ist der Mix von Tiefe und Banalität. Muss ich meinem Yuppie-Kollegen beichten, dass der mitgebrachte Wein vom Discounter war? Ich bin aus Versehen schwarzgefahren, muss ich nachträglich entwerten? Bei solchen moralischen Zipperlein lauten Ehrlingers Antworten, frei zitiert: Machen Sie sich mal locker. Kann man nicht oft genug sagen.
■ Die Autorin ist Redakteurin der taz. Foto: privat