NICHT DIE HAUPTSCHULE, SONDERN DAS GYMNASIUM MUSS VERSCHWINDEN : Fluchtwege der Bildungsbürger
Die bissigsten Schulreformer werden zahm, sobald die eigenen Kinder die Grundschule durchlaufen haben. Skandieren sie vorher „Eine Schule für alle“, darf es nachher für den eigenen Nachwuchs nur das Beste sein: das Gymnasium. Keine bildungsbewusste Bürgerin schickt ihre Kinder freiwillig auf eine Schule, die nicht zum Abitur führt. Daran ändert auch die Umwidmung der Hauptschule zu Realschule plus nichts, die Rheinland-Pfalz vorhat. Solche Reformen dienen vor allem dazu, die Gymnasien vor weiteren Angriffen zu schützen.
Die soziale Ungerechtigkeit des deutschen Schulsystems ist belegt: 80 Prozent der Schülerinnen an Gymnasien kommen aus der oberen Hälfte der sozialen Schicht – ihre Eltern verdienen mehr, haben bessere Schulabschlüsse und interessantere Berufe als die Unterschichtler. Die Auslese nach der vierten oder sechsten Klasse erschwert Kindern aus bildungsfernen Familien den Aufstieg. Ihre Mitschüler aus der Mittel- und Oberschicht haben im Bundesdurchschnitt sechsmal bessere Chancen auf einen Platz am Gymnasium. Die Elite reproduziert sich selbst. Dieser Trend setzt sich auch in Bundesländern fort, in denen es nominal keine Hauptschulen gibt. In Sachsen etwa, wo die Mittelschule Haupt- und Realschüler aufnimmt, und in Hamburg, wo Stadtteilschulen die verruchte Hauptschule ersetzen sollen. Selbst wenn nur noch zwei statt drei Schulformen existieren – die Klassengesellschaft bleibt. Mit zweifelhaften Erfolgen. Beispiele aus anderen Staaten zeigen, dass sich der Lernerfolg verbessert und die sozialen Barrieren niedriger sind, wenn Schüler länger gemeinsam miteinander und voneinander lernen.
Das alles ist bekannt. Es liegt nicht an mangelnder Erkenntnis, dass sich das Gymnasium weiterhin als Eliteförderanstalt behauptet, es geschieht vorsätzlich. In einer Gesellschaft, die durch wachsende Gegensätze zwischen Arm und Reich geprägt ist, wächst die Scheu der Mittel- vor der Unterschicht. Ein integratives Schulkonzept gelingt daher nur, wenn die Fluchtwege der Bildungsbürger geschlossen und die Gymnasien in ihrer jetzigen Form abgeschafft werden. ANNA LEHMANN