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Archiv-Artikel

NECKISCHE MATROSENLIEBCHEN, ALTE EIER UND FALSCHE KLEIDUNG Sextoy der Nano-Generation

VON JENNI ZYLKA

Was soll’s, aus dem Hard-to-get-spielen-Alter bin ich längst raus, und wenn jemand ein Freigetränk verspricht, flitze ich natürlich sofort in die Lafayette und kloppe bei der freitagabendlichen, maritim-queeren „Cruise Shoppingnacht“ eine anständige Partie Bingo mit Brigitte Skrothum. Die sitzt mit Perücke und Seemannskäppi im „Unterdeck“, und wenn sie ihr „Bingo!“ röhrt, lassen die TouristInnen, die den Trubel mit den großen Frauen und den halbnackten Matrosen ohnehin nicht so ganz deuten können, fast ihre Kulis fallen.

Im ersten Stock steht derweil ein weiteres neckisches Matrosenliebchen vor einem Planschbecken voller Plastikenten und erklärt den Gästen die Spielregeln beim Entenangeln: „Kein Punkt unter der Ente – leider verloren, grüner Punkt – ein Gläschen Champagner, roter Punkt – ein Sextoy!“ Ha, da wäre ja das Glas Champagner! Und das Sextoy sieht aus wie ein Freisprechgerät der Nano-Generation! Aber meine Angel dockt an einer Nietenente an, und somit muss ich doch den perfiden, höchstkapitalistischen Plan des Kaufhauses befolgen und tatsächlich etwas kaufen, um an mein Freigetränk zu kommen.

Flasche Sekt geht immer

Klare Sache: Mit jedem Drink wird das Einhalten des persönlichen Sparkodexes schwerer, nach dem alten „Kaptain Boef-trinkt-zum-ersten-Mal-Prost“-Prinzip. Nur: Wie bringt man sich um 23 Uhr in einen ruinösen Klamottenkaufmodus? Während es um einen herum eher um das Ausziehen zu gehen scheint und dazu noch Bässe wummern wie einen Tag später auf dem Wissenschafts-CSD?

Eine Flasche Sekt geht aber immer und ich bekomme zwei Getränkebons, habe also RICHTIG etwas GESPART, vielleicht schlage ich gleich noch bei einer Packung französisches Klopapier zu, dann müsste ich sogar mit Plus rausgehen! Les boche sind eben nicht so dumm, wie sie aussehen, hicks, beziehungsweise‚ hicks.

Samstag ist dagegen ein entspanntes Essen unter Freundinnen anberaumt, wir setzen uns selbstredend so, dass wir die Fußball-Leinwand im Blick haben, und ich beobachte etwas irritiert, wie alle den 1.000-jährige-Eier-Salat reinschieben, ohne richtig hinzugucken. Mensch, diese Eier wurden noch unter Kaiser Song Zhenzong gelegt, dann vermutlich mit Seidenballen auf viermastigen Dschunken nach Europa geschifft, vielleicht hat sogar Marco Polo von einem abgebissen! Ich habe großen Respekt vor den alten Eiern und schiebe sie andächtig im Mund hin und her, bis die Kellnerin eine Serviette bringt.

Kauft Gummistiefel!

Auch schön, wie das Thema subtil auf den Sonntag hinweist: Da wird schon wieder jemand im Bekanntenkreis 50 und am liebsten würde ich Gleitsicht-(Multifokal-)kontaktlinsen schenken, allein: Der Umgang mit der Fehlsichtigkeit ist eben doch eine persönliche Sache, zudem leuchtet mir das Prinzip noch nicht so ganz ein. Muss man dann die Augen nach unten rollen, wenn man das Kleingedruckte auf der Bierflasche lesen will?

Das sind alles drängende Themen, die mit unserer Überalterung einhergehen. Dass Veränderungen aber auch immer so lange brauchen, um in der Mitte der Gesellschaft anzukommen! Auf dem Nachhauseweg regnet es, und 80 Prozent der uns entgegenkommenden Fußballfans und SpaziergängerInnen tragen nicht die entsprechende Kleidung. Warum nicht? Seit Jahren predige ich: Kauft Regenkleidung, kauft Gummistiefel mit Absatz, es gibt einen Klimawandel! Leider fällt mir am Sonntagabend zu spät ein, dass ich ja danach hätte in der Lafayette gucken können. Dann eben nicht. Es kommt überhaupt nicht in die Tüte, noch einmal dort hinzugehen, wenn es keinen Umsonst-Sekt mehr gibt. Trage eben genauso gern Spar- wie Blaustrumpf.