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Archiv-Artikel

NEBENSACHEN AUS PEKING VON JUTTA LIETSCH Das Glück auf der Straße

Chinas Regierung und das Verkehrschaos in den STRASSEN PEKINGS UND ANDEREN METROPOLEN

„Ampeln sind die Leuchtfeuer, die uns in den sicheren Hafen leiten“ – Aufschrift auf einem Transparent

Wir leben schon seit über zehn Jahren in Peking. Aber immer noch freut sich mein Mann jedes Mal wie ein Schneekönig, wenn wir uns einer seiner Lieblingskreuzungen nähern. Dann beugt er sich erwartungsvoll nach vorn. Er umklammert das Lenkrad, grinst und folgt dem Beispiel der einheimischen Autofahrer, die das Schicksal in diesem Moment zusammenbringt. Jeder vergisst Zurückhaltung, Regeln, Vernunft. Egal, welche Farbe die Ampel anzeigt, egal, wie stark der Gegenverkehr ist, jedes freie Stückchen Straße muss so schnell und energisch wie möglich besetzt werden.

Warten gilt als Schwäche. Wenn alle Wagen, Mopeds, Lastkarren und Räder ineinander verkeilt sind, lehnt er sich zufrieden zurück und sagt: „Mal sehen, wie lange es dauert, bis sich wieder was bewegt.“ Und es folgt unentrinnbar eine längere philosophische Betrachtung über das rätselhafte Asien unter besonderer Berücksichtigung Chinas.

Täglich rollen rund 1.000 Autos neu auf die Straßen Pekings. Deshalb bleibt der Verkehr eine unerschöpfliche Quelle des Vergnügens und der Verzweiflung – auch wenn immer mehr und immer breitere Straßen gebaut werden und Überwachungskameras an den Straßenrändern hängen. Die große Zahl der Kameras verdanken wir den Olympischen Spielen im vergangenen Jahr.

Die Objektive sind von guter Qualität, Verkehrssünder müssen damit rechnen, ertappt zu werden. Wer seine Strafe nicht bezahlen will, dem dreht die Polizeibeamtin auf der Wache den Computerbildschirm entgegen, auf dem ein Foto oder sogar ein kleines Video läuft und das Delikt festhält. Damit das Autofahren nicht zu teuer wird, überkleben nun nicht wenige Fahrer ihr Kennzeichen mit einem Blatt Papier.

Mit Kampagnen versuchen die Behörden im ganzen Land unermüdlich, an das Gewissen ihrer Untertanen zu appellieren und die Unfallrate zu drücken. Dabei zielen sie keineswegs nur auf die Autofahrer, sondern auch auf die Fußgänger, die sich am helllichten Tag schlafwandlerisch ins Gewühl stürzen. In der nordöstlichen Industriestadt Shenyang zum Beispiel hängen derzeit Transparente an den Straßenrändern. „Ampeln sind die Leuchtfeuer, die uns in den sicheren Hafen leiten“, heißt es da, oder: „Ein zivilisierter Schritt in den Verkehr – Freude fürs ganze Leben.“

Mein Mann ist inzwischen zum Lieblingsteil seiner Überlegungen gekommen. „Warum“, fragt er, „werden eigentlich Fahrradfahrer und Fußgänger nicht bestraft? Warum muss nur immer ich meine Knöllchen zahlen?“ Auf wundersame Weise löst sich das Chaos auf, es geht weiter – bis zur nächsten Lieblingskreuzung.