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Archiv-Artikel

NACHRUF AUF MARTIN HOHNECKER von ANTON HUNGER Die Glosse und das Ganze

Leben hinterlassen Spuren, bisweilen nachhaltige, oft kümmerliche, aber eben immer Spuren. Manche Biografien lesen sich, als sei die Geschichte vorbestimmt, manche, als habe nur der Zufall Regie geführt. Journalisten sind nicht ganz unwesentlich an der Festlegung beteiligt, wie Leben nach dem Ableben im Bewusstsein der Lebenden weiterleben. Litera scripta manet, wie der gebildete Schwabe sagt. Von vielen bleibt das irdische Wirken in nachhaltiger Erinnerung. Die meisten aber verblassen, wenn die Geschichte andere Themen auf die Tagesordnung setzt.

Das Leben ist eben ungerecht – und am Ende empfindet man auch das als ungerecht, was zum Leben gehört: den Tod. Rücksicht ist für den Tod keine Denkkategorie, Angehörige und Nahestehende sind ihm gleichgültig, und weltliche Terminkalender ignoriert er völlig.

Der Journalist Martin Hohnecker ist gestorben. Sein Tod kam nicht unerwartet, er war schon längere Zeit krank. Aber wenn das Unerhörte eintritt, ist man immer erschrocken, auch wenn man weiß, dass schwer heilbare körperliche Leiden irgendwann die Überlebenskräfte so sehr angreifen, dass sie versiegen. Es ist nicht so sehr der Augenblick des Todes, der Nahestehende fassungslos macht. Es ist der Moment, in dem die Nachricht des Todes von einem Besitz ergreift.

Stücke schreiben, die federleicht sind, die den Eindruck erwecken, als hätte der Schreiber den meisterhaften Text mit einem Gedankenblitz locker hingezaubert, ist schwer. In aller Regel quälen sich die Schreiber, fangen nochmals an, wenn die Sprache den selbst gestellten Ansprüchen nicht genügt. Schwerer zu schreiben sind nur Nachrufe. Und noch schwerer zu schreiben sind Nachrufe auf Kollegen wie Martin Hohnecker, die mit der Sprache so sicher und virtuos umgehen konnten wie Zirkusartisten mit ihrem Trapez. Ich hätte mich nicht darauf einlassen sollen.

Martin Hohnecker ist 1939 geboren, als andere ihre widerlichen Donnerschläge vorbereiteten. Und er ist im pietistischen Korntal geboren, wo man nach seinen Worten noch immer auf das Kommen des Herrn wartet. Auf Zeitpunkt und Ort der Geburt hat man keinen Einfluss. Aber Korntal, das prägt. Weltlicher Frohsinn, Luxus und Unmäßigkeit sind im Pietismus nicht nur tabu, sie werden schroff abgelehnt. Fleiß, Sparsamkeit, Pflichtbewusstsein und Gottgefälligkeit dagegen sind die ungeschriebenen Gebote.

Man ist entweder ein Hundertprozentiger, oder man hinterfragt. Und Hohnecker muss irgendwann in seinem Leben hinterfragt haben, als er den angeborenen Pietismus – jedenfalls für sich – vom Kopf auf die Beine stellte, den Gegenentwurf lebte: Er wurde Journalist, Feinschmecker, schrieb lesenswerte und liebenswürdige Hommagen an große Köche und wurde ein vorzüglicher Weinkenner. Er hat sogar dem Trollinger – ein großes Kunststück – wieder einen Platz in der Genießerszene verschafft. Vor allem aber: Er wurde Journalist – mit Leib und Seele. Mit kräftiger Sprache und hintersinnigem Humor. Ein Leuchtturm in den oft seltsamen Verirrungen der schreibenden Zunft.

Hohnecker war, was heute im Journalismus selten ist: neugierig, mutig und streitlustig. Er ging nicht irgendwohin, um die Klischees, die alle schon im Kopf hatten, zu reproduzieren. Er konnte sich überraschen lassen und dann seine Meinung ändern. Er hatte Rückgrat – und vor allem eine Haltung. Haltung ist im Journalismus ohnehin das Wichtigste. Haltung heißt, sich bei der schöpferischen Schreibarbeit immer zu fragen: Warum schreibe ich das? Was will ich warum mitteilen? Wie wähle ich meine Worte? Ohne Haltung gibt es keinen guten Journalismus, ohne Meinung sehr wohl. Hohnecker war sich dessen immer bewusst. Eine starke Meinung hatte er trotzdem.

Hohnecker war 35 Jahre bei der Stuttgarter Zeitung. Er hat die Zeitung geprägt, ihr seinen Stempel aufgedrückt. Seine samstäglichen Glossen waren journalistische Leckerbissen, unerreicht in ihrem Witz und Tiefsinn, intellektuelle Delikatessen für den Leser. Er kannte das Handwerk aus dem Effeff, war Chef der Kreisredaktion, Korrespondent in Ludwigsburg, Chef vom Dienst, Lokalchef und stellvertretender Chefredakteur. Und in Stuttgart war er eine Stimme, auf die gehört wurde. Zuweilen eine gefürchtete.

Dass er sich mit den Großen und Mächtigen auf der Lokalebene stritt, verschaffte ihm nicht unbedingt Freunde. Das gehört zum Geschäft, solche Streitereien fechten auch weniger mutige Journalisten aus. Er aber hat sich ohne jede Scheu auch diejenigen vorgeknöpft, die gewöhnlich nicht im Streit-Fokus von Journalisten liegen: Verleger und Chefredakteure. Wenn ihm etwas in der Zeitung nicht passte, dann sagte er es deutlich und vernehmbar, schrieb geharnischte Briefe an die Verlagsleitung, wenn das Spardiktat wieder nur auf dem Rücken der Journalisten ausgetragen werden sollte. Nicht um sich bei den Kollegen zu profilieren. Nein, um denen eine Stimme zu geben, die es nicht wagen durften oder glaubten, es nicht wagen zu dürfen. Dass er nach seinem Ausscheiden bei der Stuttgarter Zeitung im April 2004 mit weiteren Kollegen den Diskutierzirkel „Freunde der Zeitung“ ins Leben rief, Referenten zu Wort kommen ließ, die gewöhnlich nicht auf dem Radar von Journalisten auftauchen, und über Zukunftsperspektiven der bedrohten Zunft der Qualitätsjournalisten stritt, zeigt seine Haltung: die Verkörperung der guten Zeitung als gesellschaftlich notwendiges Projekt.

Ich hatte das große Glück, mit Martin Hohnecker bei der Stuttgarter Zeitung zusammenarbeiten zu dürfen. Ich habe von ihm etwas mitbekommen, von dem nur er fähig war, es zu vermitteln: dass man in Siegen nie den Charakter, in Niederlagen nie den Mut verlieren darf. Er war da, wann immer ich seinen Rat brauchte. Und als ich ihn bat, mir bei einem meiner Bücher auch mit Tat zur Seite zu stehen, war er ganz selbstverständlich da. Wir haben über den Manuskripten gebrütet, dabei unzählige Flaschen Lemberger und Trollinger als Seelendoping geschlotzt – und er hat dort eingegriffen, wo meine Kunst an ihre Grenzen stieß. Ohne ihn, das wandelnde Schwaben-Lexikon, wäre das letzte Buch ein Fragment geblieben.

Martin Hohnecker wurde 73 Jahre alt. Man sagt es immer so leicht, aber es stimmt halt: Er hat uns viel zu früh verlassen. Im Augenblick des Eintreffens der Todesnachricht können wir nur ahnen, was wir verloren haben.

Aber eines weiß man jetzt schon sicher: Einer der ganz wenigen Leuchttürme im Journalismus hat sein Licht ausgeknipst. Für immer.