■ NACHDENKEN AUF ALGERISCH: Die Straße
Die Leute verweilen nicht auf den Straßen. Die Straße ist nicht Ort der Begegnung. Sie machen einen eiligen Eindruck. Sie laufen nach vorne starrend oder den Blick zum Boden senkend. Die Straße ist voll, lebt aber nicht. Straßenmusikanten, Maler und Bettler werden übersehen. Eine tote Bühne, die die Leute besteigen, durchqueren und schnellstens verlassen. Die Männer reagieren hier anders auf Frauen. Auch sehr schöne und provozierend gekleidete Frauen ernten kaum mehr als einen vorsichtigen Seitenblick. Eine Bühne mit einem unbeteiligten Publikum.
Dabei ist die Straße bunt. Ein geordnetes Gemisch aus blinkenden Lichtern, glänzenden Schaufenstern und bunten Schildern.
Blond, blaue Augen, verführerisch und meistens bereit, mit ins Bett zu gehen. Dieses Bild von der Europäerin ist bei vielen tief verankert. Ich konnte mich auch nicht von diesem Vorurteil befreien.
Ich denke noch zurück an Tipaza, an die Sommer in diesem Feriendorf, wo die Gästinnen bereits beim Busaussteigen vom Hotelpersonal »eingeteilt« wurden. Die »SelÛa« — arabisch »Ware« — ist da! hieß es dann bei den Insidern. Die Vollbusige für den Rezeptionisten, die kleine niedliche mit den blauen Shorts für den Bademeister, die Langbeinige für... Und es hat fast immer geklappt! Jeder bekam, was er wollte.
Trotzdem, die langjährige Erfahrung mit diesen Europäerinnen bringt mir nichts hier. Fast alle Bahnhofsviertel der deutschen Städte wirken ähnlich. Bedrückend, unheimlich. Ich schäme mich, an den offengelegten Brüsten, nackten Körpern, roten Lippen von Frauen auf den Werbeplakaten, Prospekten, Zeitschriften, Schildern oder in den Schaufenstern vorbeizugehen. Wie kann man nur mit seiner Schwester oder Mutter durch diese Welt gehen? Ich empfinde diese Bilder als unheimlich, gefährlich und unfaßbar. Eine unsichtbare Wand, eine merkwürdige Kraft fesselt mich und bildet zugleich eine unüberbrückbare Kluft zwischen mir und dieser Welt. Verkehrte Welt. Bei uns ist alles diskret, versteckt, Tabu. Eine Welt, die unsichtbar bleiben will. Abgekapselt auf ihre Geheimnisse, die nur in der Phantasie jedes jungen Mannes gelüftet werden. Die Bilder entstehen und sterben in den Köpfen. Hier ist alles offen. Sex ist überall gegenwärtig... Überall sehe ich Zeichen, Deutungen auf das Eine... Die Straße riecht nach Sex. Mohamed Tilmatine
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