Musikalische Missverständnisse zum 9.11.89: Der Mauerbarde David Hasselhoff
Die Geschichte des Mauerfalls ist eine Geschichte von Missverständnissen, heißt es. Mit den sogenannten "Mauerfallhymnen" ist es noch viel, viel schlimmer.
Wie entsteht eigentlich ein Volkslied, also ganz konkret? Unter "Die Entstehung eines Volksliedes" gibt ein gewisser Dr. Uwe Koch auf seiner Webseite darüber Auskunft: "Am Abend des 9. November 1989 saß ich mit Freunden aus dem Münsteraner Studentenwohnheim vor dem klapprigen Fernseher unserer Gemeinschaftsküche.
Mit ungläubigem Staunen verfolgten wir, wie Menschen aus Ost-Berlin sich an Schlagbäumen und irritierten Grenzern vorbei auf den Weg nach West-Berlin machen. Menschen umarmen sich, feiern, weinen - Gefühle pur in Berlin und Gänsehaut im Studentenwohnheim. Ganz platt von den Eindrücken, die ich noch vor wenigen Wochen für unmöglich gehalten hätte, ging ich irgendwann in der Nacht zurück in mein Zimmer, wo ein kleines E-Piano schon darauf wartete, das Unglaubliche mit mir zu verarbeiten."
Das Unglaubliche, die Gefühle pur in Berlin und die Gänsehaut der bildungsnahen Zuschauer in Münster - all das ist jetzt zwanzig Jahre her. Fast genauso lange dauerte die Verarbeitung durch Dr. Uwe Koch, einen Musiker, Entertainer und im Hauptberuf Pressesprecher der Sparkasse Münsterland-Ost. Kürzlich hat er, ein absoluter Nobody in der Branche, seine erste Platte veröffentlich. Es ist, wenn man so will, ein Konzeptalbum und heißt "Wir sind das Volk".
Wie willkürlich sich eine aufwendige CD- und DVD-Box zum Mauerfall zusammenstellen lässt, demonstriert die Plattenfirma Universal mit ihren "Songs of Change". Die Liste dieser Songs spricht Bände. Mit dabei und irgendwie logisch: Scorpions, "Wind of Change"; Udo Lindenberg, "Sonderzug nach Pankow"; Hannes Wader, "Die freie Republik". Schon seltsamer: Nena, "99 Luftballons"; Ideal, "Berlin"; Fischer Z, "Berlin"; Stephan Remmler, "Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei". Vollkommen aus der Luft gegriffen: Roger Waters, "Another Brick in the Wall"; Seeed, "Dickes B"; Camouflage, "Love Is a Shield"; D.A.F, "Kebapträume"; Element of Crime, "Jung und schön". Und schließlich schließen Scooter den Kreis und ihren Dumpf-House mit einem sentimentalen DDR-Klassiker von City kurz: "Am Fenster".
Offenkundig hat der Münsteraner nicht nur seine Gefühle vom 9. November 1989 über zwanzig Jahre konserviert. Seine Hymne ist auch stilistisch voll auf der Höhe der damaligen Zeit. "Wir sind das Volk" heißt in der musikalischen Übersetzung: Ich bin jetzt mal Udo Jürgens, aber mit ganz viel Saxofon. Wäre die Mauer mit solchen musikalischen Brocken verstärkt worden, würden die Mauerspechte heute noch an ihr rummeißeln. Hochrangige Rezensenten sind allerdings begeistert.
"Was lange währt, wird endlich gut, passt zu Ihrer CD", bescheinigt Bundespräsident Dr. Horst Köhler dem Absender des Präsents und ergänzt: "Im Jahr 2009 können wir mit Freude und Stolz auf das seitdem Erreichte zurückblicken. Ihr Lied leistet einen schönen Beitrag dazu." Auch Dr. Helmut Kohl ist angetan, dass sich da ein Mensch "in besonderer Weise" mit der Teilung des Vaterlandes und der deutschen Einheit auseinandergesetzt habe. Und Dr. Burkhardt Budde, Vorstand der Ärztekammer Westfalen-Lippe, überkam beim Hören "dieses grandiosen Songs voller Dynamik und Emotionen" außer Gänsehaut und Gefühlen pur der Wunsch, dass er "Einzug in die Herzen aller Deutschen findet und parallel zur Nationalhymne zur Hymne der Deutschen Einheit wird".
Eine Mauerfallhymne 2009, kommt die nicht ein bisschen spät, könnte sich vielleicht fragen, wer sich für Mauerfallhymnen interessiert. Nun, als Pink Floyd der dunklen Seite des Mondes ein ganzes Album widmeten, war der Planet auch schon Milliarden Jahre um die Erde gekreist. Zudem ist der Mauerfall unbestritten ein epochales Ereignis, das inzwischen freilich in eine Art Geschichtsevent umgemodelt wurde. Wenn ZDF-Chefhistoriker Guido Knopp mit der Show "Die deutsche Einheit - Wie es wirklich war" auf Tour gehen darf (Start am 11. November in Erfurt), können Musiker auch Mauerfallhymnen schreiben.
Star-DJ Paul van Dyk - geboren im ostdeutschen Eisenhüttenstadt, kurz vor der Wende mit der Mutter in den Westen gezogen und bald darauf zurück nach Berlin - hat es ebenfalls getan, weil ihn die Ereignisse von damals "noch heute ganz persönlich berühren". Das Werk "We Are One" wird am 9. November im Rahmen der offiziellen Gedenkfeierlichkeiten am Brandenburger Tor aufgeführt.
Die Hymne von Dr. Uwe Koch hat ihren großen Tag dann bereits hinter sich. "Wir sind das Volk" wird nämlich heute (6. November) in Leipzig aufgeführt. Aufführungsort ist das Zeitgeschichtliche Forum, wo eine Preisverleihung des Studentenwettbewerbs "Jubiläum Freiheit und Einheit" stattfindet. Bundeskanzlerin Merkel hatte Kochs Werk höchstselbst an das für die Jubiläumsfeierlichkeiten zuständige Innenministerium weiterleiten lassen, welches den Schöpfer prompt nach Leipzig einlud. Die clevere Lobbyarbeit in eigener Sache hat sich für den entertainenden Sparkassenangestellten also ausgezahlt.
Überhaupt sind Mauerfallhymnen ein nebensächliches, aber herrlich absurdes Beispiel für die Mythenbildung ohne Rücksicht auf historische Wahrheiten. Da Musiker per se ruhmsüchtig sind, haben sie auch nichts dagegen, für den Fall des Eisernen Vorhangs quasi persönlich mitverantwortlich gemacht zu werden.
Das gilt nicht nur für den klampfenden Klassenkämpfer Wolf Biermann, der inzwischen längst im Sumpf seiner eigenen Bedeutungssucht untergegangen ist. Das gilt auch für so kuriose Gestalten wie den US-amerikanischen Hampelmann David Hasselhoff. Ihn verleiteten die Charts vor zwanzig Jahren zur Überzeugung, mit seinem kinderkompatiblen Hitsong "Looking for Freedom" den Grenzwall in Deutschland zum Einsturz gebracht zu haben.
Auf der großen Silvesterparty am Brandenburger Tor 1989, wo er das Lied vor Zehntausenden sang, hat ihm allerdings auch niemand widersprochen. Damals dürfte eben jeder irgendeinen Waaahnsinn erzählen. Als sich Hasselhoff zum Gedenken an seine historische Leistung jüngst für einen Auftritt beim "Fest der Einheit" am Brandenburger Tor anbot, stieß er beim Berliner Senat auf eine Mauer des Schweigens - als Trostpreis sozusagen wird er nun bei der Verleihung der europäischen MTV-Awards in Berlin erwartet.
Natürlich gibt es Songs, die man ohne peinliche Berührtheit mit Wende und Mauerfall assoziiert. Es handelt sich um Songs, die den Zeitgeist von 1989 widerspiegelten und dadurch zu Hits wurden. Für viele Ex-DDR-Bürger gehört dazu "Langeweile" von Pankow oder "Born in the GDR" von Sandow.
Diese Lieder hatten nichts Pathetisches, geschweige denn, dass sie zum Mauerdurchbruch aufriefen, aber infolge ihrer Aneignung durch die Masse junger DDRler bekamen sie etwas Hymnisches.
Das Balladeske kam eher aus dem Westen: Udos "Mädchen aus Ostberlin", der "Sonderzug nach Pankow" mit dem Motto "Wandel durch subversive Ranschmeißung" oder Westernhagens Song "Freiheit". Dessen Metamorphose zur Mauerfallhymne endete erst im September 1990, als das drei Jahre alte Lied als Single veröffentlicht wurde. Bestes Beispiel für die profitable Umwidmung von bereits Bestehendem ist Roger Waters Aufführung der Rock-Oper "The Wall". Im Original von 1979 steht die Metapher von der Mauer für die Vereinsamung des Menschen. In der Neuauflage anlässlich des ganz unmetaphorischen Mauerfalls füllte der Ex-Bassist von Pink Floyd 1990 den damals noch unbebauten Potsdamer Platz mit 300.000 Fans.
Aber warum auch nicht, gehört doch selbstverständlich das halbe, wenn nicht das ganze Popmusikschaffen der westlichen Welt zu jener Musik, die die Mauer porös machte. Einfach, indem sie westliche Einstellungen über die Musik transportierte. Überdies dürfte es wohl kaum eine Kunstform geben, die dem Sentimentalischen (also: der Liebe zum Gefühl um des Gefühls willen) so nahe steht wie die Musik, deren Wirkung auf den Menschen noch immer etwas unvermittelt Rätselhaftes anhaftet - und in der sich Erinnerungen speichern lassen wie in Bernstein. Gefühle pur eben.
Ein besonderer Fall ist freilich das 1990 veröffentlichte Rührstück "Wind of Change" von den Scorpions. Sänger Klaus Meine besteht darauf, dass der Song-Einfall eher da war als der Mauerfall.
Als er im August 1989 vom Moscow Music Peace Festival zurückgekommen sei, habe er den Song unter dem Eindruck dessen geschrieben, was die Band bei ihren Auftritten in der Sowjetunion zwischen 1988 und Sommer 1989 erlebte hätte. "Er drückte die Hoffnung aus, dass die Zeiten des Kalten Krieges bald vorbei sein würden." Zum Glück behaupten nicht mal die Hannoveraner selbst, dass sie mit ihrem Pfeiflied den Lauf der Geschichte beeinflussten. Höchstens den ihrer Karriere. "Mit ,Wind of Change' wurden wir über die Hardrock-Szene hinaus berühmt", sagt Meine. Eigentlich wollten The Scorpions am 9. November ja auch am Brandenburger Tor auftreten - im Rahmen ihres eigenen Mauerfall-Musicals "Wind of Change". So hatten sie es seit 2002 regelmäßig angekündigt. Passiert ist nichts. Dafür gebührt ihnen Dank.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin