Musik und Nachhaltigkeit : Green Pop
Changemaker Jacob Sylvester Bilabel traute sich vieles zu und probierte alles aus. Die Sinnkrise kam schon mit 35.
Von DANA GIESECKE
In der Ecke eines Besprechungszimmers in der Berliner Torstraße 154 steht ein überdimensionaler Holzschemel. Mit 1,80 Meter Sitzhöhe erscheint er wie ein Direktimport aus der Welt der Riesen.
Dieser gigantische Stuhl hat eine Menge mit Jacob Sylvester Bilabels Lebensgeschichte zu tun. Bilabel hat auf vielen hohen Stühlen gesessen und sich – nach eigenen Angaben – lange Zeit seines Lebens äußerst »präpotent« gefühlt. Auch arrogant sei er gewesen, hin und wieder sogar auf »Arschlochlevel«. Warum sitzt der gleiche Mann einem heute als Leiter des Aktionsnetzwerk Nachhaltigkeitzugewandt und wohlwollend gegenüber? Der Riesenschemel diene seinem Team dazu, bei Problemlagen einen anderen Blickwinkel einzunehmen, sagt Bilabel. Dadurch ergäbe sich hin und wieder eine Lösung, an die man mittenmang nicht gedacht hätte. Diese Methode scheint tatsächlich Erfolge zu produzieren, jedenfalls stapeln sich Urkunden, Preise und Pokale hinter ihm im Regal.
Bilabel, inzwischen 50 und im Casual-Friday-Look gekleidet, gehört zu den wenigen Berlinern, die wirklich aus Berlin kommen. Er wuchs in einer Linksintellektuellen- und Künstler*innen-WG auf. Als seine Eltern sich trennten, ging er mit seiner Mutter nach Hamburg. »Ich kam aus dem maximal selbstbestimmten antiautoritären Kontext und hatte in Hamburg plötzlich eine Lehrerin, die mit dem Schlüsselbund nach mir warf, wenn ich nicht hören wollte«, sagt Bilabel und schaut dabei ausnahmsweise richtig ernst. Nach der Schule und einem abgebrochenen Studium der Kulturanthropologie und Linguistik arbeitete er fürs Theater, machte Radio und lokales Fernsehen, veranstalte Partys in der Hamburger Washington Bar (ja, die Bar, in der Freddy Quinn entdeckt wurde!), organisierte exorbitant teure Marketing-Events für einen Tabakkonzern, schrieb kurzzeitig für das Wirtschaftsmagazin brandeins und stieg schließlich bei Universal Music bis in die Führungsetage auf. Davor gründete er mit Marcel Loko und Bernd Heusinger von der Agentur »Zum goldenen Hirschen« das boulevardistische Online-News-Magazin thema1. Mit Emotionalisierung von Fakten machten die Newcomer Millionen, mieteten in Berlin ein 600 Quadratmeter-Großraumbüro und wurden so richtig schön großkotzig. Bis dann die New-Economy-Blase platzte und aus den reichen Riesen wieder arme Zwerge wurden.
Von „anything goes“ to „go green“
»Ich traute mir immer viel zu, probierte alles aus. Ich fühlte mich wie ein Hundewelpe im Spieleparadies. Es war ein präpotentes Dauer-Feeling«, sagt Bilabel über seine wilden Zeiten und fügt hinzu: »Ich hatte damals keine Vorstellung von Zukunft, ließ mich einfach treiben und dachte stets in einem zeitlichen Horizont von allerhöchstens drei Jahren«.
Doch die Sinnkrise kam schon mit 35. Zusammen mit einem (ebenso orientierungslosen) Freund, Guido Axmann, begab sich Bilabel auf die Suche nach einem neuen Betätigungsfeld, das mehr den eigenen Überzeugungen entsprach als alles Bisherige. Eher zufällig landeten sie 2007 auf einer Konferenz des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK), wo der damalige Direktor Hans-Joachim Schellnhuber die beängstigenden Befunde des IPCC-Berichtes vorstellte. Und dabei soll er gesagt haben: Alles wird noch schlimmer und noch schneller kommen, als es im Bericht steht. »Warum unternimmt denn keiner was?«, habe Bilabel den Klimawissenschaftler gefragt. »Gute Frage!«, soll der geantwortet haben. Seit diesem Moment war für Bilabel und Axmann klar: »Wir machen das, was die anderen nicht machen«.
Die alte Firma thema1 wurde exhumiert und mit neuem Inhalt wiederbelebt. »Es brauchte kein neues Start-up, keine neue Umweltorganisation und kein neues Forschungsinstitut, es brauchte schlicht eine Institution, die dazwischen agiert und alle miteinander verbindet«, sagt Bilabel mit dem Gestus eines Managers und nennt das auch »operatives Management von Multi-Stakeholder-Prozessen«. Im ersten Projekt richtete sich der Blick auf den alltäglichen Konsum. Damals gab es das Konzept des Product Carbon Footprint für mehr Produkttransparenz nur in England, und thema1 wollte damit auch in Deutschland neue Standards für klimafreundliche Produkte setzen. Zusammen mit dem Öko-Institut, WWF, PIK und zehn großen Unternehmen entwickelten sie ökologische Richtmaße für Produkte wie Wildlachs-Tagliatelle, Waschmittel oder einen Telefonanschluss – also ganz normale Produkte des Lebens. Im Jahr 2009 waren sie damit die ersten in Deutschland; und die berufliche Neujustierung der Sinnsuchenden war vollzogen: vom anything goes zum go green.
Die Klima- und Energiefrage mit Party, Spaß und Subkultur zusammenbringen
Im gleichen Jahr gründete Bilabel die Green Music Initiative. Ihn hatte immer gestört, dass ausgerechnet das Pop-Business mit seinem großen Einfluss auf Lebensstile und Haltungen völlig desinteressiert an Fragen von Energieverbrauch und Klimawandel war. Dabei war ja gerade die Musik- und Entertainmentindustrie sehr energieintensiv – egal, ob es um die Produktion oder das Abrufen, Speichern und Abspielen von Musik geht oder auch um Festivals und Tourneen. Wenn man hier, das war die Überlegung von Bilabel, etwas an der gewohnten Praxis drehen könnte, wäre nicht nur eine Menge an Treibhausgasen einzusparen, es könnte auch ein ideales Instrument entstehen, die ganze Klima- und Energiefrage aus der Ecke der Ökofrömmigkeit zu holen und mit Party, Spaß und Subkultur zusammenzubringen. Die Green Music Initiativesorgt seitdem dafür, dass Sonderzüge Musik- und Feierbegeisterte zu den Festivals karren, dass es Übernachtungsmöglichkeiten vor Ort gibt, dass Tanzflächen installiert werden, die die Bewegungsenergien der Tanzenden in Strom transformieren oder Wasserstoff-Brennstoffzellen als Generatorenersatz entwickelt werden. »Mit solchen Maßnahmen kann man den Erlebnischarakter erhöhen und zugleich den Energieverbrauch reduzieren«, erklärt Bilabel.
Inzwischen hat er sein Spektrum schon wieder erweitert, wobei ihm seine frühen Erfahrungen ebenfalls nützlich sind: Mit dem Aktionsnetzwerk Nachhaltigkeit in Kultur und Medien ist er für Institutionen ein Ansprechpartner, wenn es um die Umsetzung von internen Klimamaßnahmen im Bereich der Betriebsökologie geht. 34 Kultureinrichtungen, sogar Unternehmen aus der Filmbranche, sind bereits dabei.
»Aus meiner Präpotenz ist Potenz geworden«, sagt Bilabel mit sonorer Stimme und, ja, auch zufrieden in sich hinein lächelnd. »Was ich einst mit Kraft vollbrachte, erledigt nun mein Fachwissen. Und das gebe ich gerne an die nächste Generation weiter«.
Doch egal, was Bilabel fürs Klima macht, das Gespräch mit Schellnhuber und dessen dystopische Prophezeiung bleibt ihm unvergessen. »Es geht noch gut aus, da bin ich mir sehr sicher«, sagt er. »Wenn ich nicht daran glauben würde, hätte ich ab sofort eine richtig schlechte Zeit – und mein gesamtes System würde implodieren. Daher habe ich mich für einen stoischen Optimismus entschieden.«
Dieser Beitrag ist in taz FUTURZWEI N°19 erschienen.