piwik no script img

Moral ist Selbstverantwortung Hört auf zu heulen!

Die Deutschen schieben gern die Schuld auf das „System“. Aber wer Zukunft will, muss sie zu seiner persönlichen Angelegenheit machen, sagt Wolf Lotter.

Von WOLF LOTTER

1. Unterkomplexe: aufgepasst!

Die Deutschen haben es gern übersichtlich, und das gilt auch für die Veränderung und den Fortschritt. Sie haben nichts gegen das Neue, aber sie mögen es nicht, wenn es nicht ordentlich daherkommt. Deshalb werden sie nervös, wenn man ihnen sagt, dass die Große Transformation, die seit einigen Jahren, wenn nicht Jahrzehnten, unterwegs ist, mehr ist als die Energiewende und der Kampf gegen den Klimawandel. Das ist sehr verwirrend!

Nun ist es so: Schlichte Menschen glauben, dass, wenn man mehr als EIN Problem gleichzeitig adressiert, automatisch alle kleiner im Sinne von unwichtiger werden, oder, wie man im Soziologen-Slang sagt, marginalisiert. Doch schau mal genau, da ist gar kein Rand, wirklich, die Welt ist rund, du kannst da nicht runterfallen. Aber, sagen dann die Schlichten, die man früher einfach doof nannte, das sagt man nicht mehr, unterkomplex heißt das heute, und das trifft ja auch den Nagel auf den Kopf.

Zu hart? Dann heul doch. Es ist dringend nötig zu sagen: Hört auf, dumme Transformation zu machen, hört auf, euch in die Tasche zu lügen, hört auf, an das Schlichte zu glauben, und was am allerschlimmsten ist: Hört auf zu glauben, dass das Einfache gut und das Komplexe böse ist. Ein Mangel an Durchblick ist kein Defizit an Moral.

2. Eine Frage des Charakters

Der Reihe nach: Die letzte große Transformation startete vor gut 250 Jahren. Die Industriegesellschaft löste die feudale Agrargesellschaft ab. Die ökologischen und politischen Nebenwirkungen waren einzigartig, gleichsam aber auch die Wirkung auf das, was die alten Römer m/w/d die moralitas nannten. Der Moralbegriff, so lesen wir in der Wikipedia, »beschrieb ursprünglich vor allem, wie Menschen faktisch handeln und welches Handeln in bestimmten Situationen erwartet beziehungsweise für richtig gehalten wird«. Es ging also nicht nur um die guten Sitten, es ging auch um die Verantwortung des Selbst, den Charakter, der sich offenbarte, wenn ein Mensch sich für »das Richtige« oder »das Falsche« entschied. Die Sitte war eine Richtschnur, aber entscheiden musste jede, jeder selbst. Moral ist keine sture Regel. Die Moral, der Charakter eines Menschen, das ist sozusagen die Selbstverpflichtung, keinen Mist zu bauen und keinen Mist zu reden, wenn man es besser weiß. Moral, Charakter, das ist eine Art Gegenmittel zu Heuchelei.

Was soll man seinen Kindern heute beruflich empfehlen? Werde Heuchler, oder Lügner, denn gelogen und geheuchelt wird immer! Wer jetzt Skrupel kriegt, der möge sich anschauen, wo er lebt. Die Große Transformation schreitet unaufhörlich voran, allerdings überwiegend verbal. Es gibt ein breites und weites Maulheldentum der ökologischen Trendwende, es ist seit Jahrzehnten unter dem Schlagwort des Greenwashing bekannt. Wo gibt es noch ein Waschmittel, das nicht ökologisch abbaubar ist, wo ein Lebensmittel, das nicht bio ist und ohne künstliche Zusätze, wo ein Unternehmen, das nicht von der Gemeinschaftstoilette bis zum Lagerraum mit Nachhaltigkeitszertifikaten zugekleistert ist? Solange sich niemand bewegt, keine rausgeht, keiner nachsieht, ist das auch alles total wahr und wirklich. Doch tatsächlich ist – nur mal zum Beispiel – der öffentliche Verkehr in Deutschland ein Jahrhundertdesaster, die Autobahnen sind zugestaut und der gute alte Hausbrand wieder zurück, mit Ruß und jeder Menge Schadstoffen und gesundheitlichen Langzeitfolgen. Auch wenn für jedes Windrad und für jeden Quadratmeter Photovoltaik gleich der Blasmusik-Verein und die Lokalzeitung anrücken, kann das am Ende bedeuten: viel zu wenig, viel zu schlapp, viel zu unmoralisch. Die Große Transformation ist eine Charakterfrage.

3. Kollektiver Selbstbetrug

Die Transformation, die politische und die persönliche, bedient sich des alten Arbeitskreisprinzips, das nicht nur die Deutschen so lieben. Hauptsache, man war es nicht beziehungsweise nicht allein. Diese schlechte kulturelle Angewohnheit hat natürlich etwas mit der üblen Vergangenheit Deutschlands zu tun, den Kriegen, den Niederlagen, der Rolle der Täter, und wenn einem die ganze Welt zu Recht sagt, was man getan hat, dann ist es, nüchtern betrachtet, nachvollziehbar, die persönliche Schuld so schnell wie möglich zu vergesellschaften. Dann war nicht der Opa an der Front, sondern der Arbeitskreis Wehrmacht oder die ARGE Großdeutschland.

Und was soll man als Einzelner auch schon ausrichten? Dieses tief verankerte, in der Kultur so geliebte Abtäuschen bei der Selbstverantwortung ist die entscheidende Hauptursache, der Charakterfehler, auch der deutschen Transformation. Die fahren ja auch schnell. Die heizen ja auch mit Kohle. Die tun ja auch nur so, als ob alles vom Bio-Metzger wäre.

Jeder lügt jede unaufhörlich und mit einer grandiosen Selbstverständlichkeit an, heuchelt, was das Zeug hält, und macht einen Zeitsprung zurück ins späte Mittelalter, wo der Ablasshandel dafür sorgte, dass die Seele aus dem Feuer springt, wenn der Groschen im Beutel klingt – »dafür zahlen wir doch Steuern!«. Und so verhalten sich Produzenten, Politiker, Konsumenten und Bürger m/w/d zum großen Teil und mit großer Selbstverständlichkeit gegen die Wirklichkeit, sei es nun die des Klimawandels oder der Energiekrise, der Abwehr totalitärer Irrer auf der ganzen Welt und den Allianzen mit Schurkenstaaten.

Kein Charakter, kein Anstand, aber das alles mit größtmöglicher Geste vorgetragen. Vor einigen Monaten fiel eine Journalistin in den sozialen Netzwerken auf, die sich beschwerte, dass das ihr angebotene Standardmenü nicht vegetarisch sei, sondern mit klimaschädlichem Fleisch gereicht werde. Sowas kann man sagen, ob es klug ist, es an Bord eines Flugzeuges zu tun, ist eine andere Geschichte. Möglich ist derlei unreflektiertes Empören ja nur, weil die, die sich empören, im Wortsinn nicht über den Tellerrand gucken können. Es ist bigott und heuchlerisch, sich an Bord eines Flugzeuges über die klimaschädlichen Effekte einer Frikadelle im Menu zu unterhalten, während es völlig okay ist, zu beklagen, dass Airlines keine vegetarischen Gerichte anbieten – und damit die Nachfrage eines immer größeren Publikums, das kein Fleisch mag, zu respektieren.

4. Martyrium

Das Identitäre, das Identitätspolitische, es ist naturgemäß beschränkt, das gilt geistig und moralisch, und zwar deshalb, weil es konsequent ablehnt, was für Anstand, Moral und echte Transformation unverzichtbar ist: nämlich in Zusammenhängen, im Kontext, zu denken – oder es vielleicht gleich zu lassen. Nichts von dem, was wir tun, bleibt folgenfrei und hängt einfach so im (fast) luftleeren Raum, wie die 13 Kilometer über Grund und mit 960 Sachen fliegende Kämpferin für den Klimaschutz durch steakfreie Menüs. Es ist nicht egal, was man tut, was man macht. Wer das nicht verstanden hat, ist weder glaubwürdig in Sachen Vegetarismus noch Klimawandel noch Nachhaltigkeit, sondern einfach nur auf die eigenen Bedürfnisse reduziert – was total okay ist, solange man dabei nicht behauptet, man tue das für das Wohl der Menschheit und den Weltfrieden. Da wird es dann lächerlich.

Natürlich gilt dasselbe für Konzerne, die nicht aus eigener Kraft und mit eigener Innovation dafür sorgen, dass transformationstechnisch was weitergeht, sondern nur zögerlich, zaudernd über Ausstiegsdaten verhandeln, was ja auch geschieht, damit die Politik das tut, was sie immer tut, nämlich den Konzernen – und eben nur denen, nicht dem Mittelstand und auch nicht den Selbstständigen – das Investitionsrisiko durch Prämien und Subventionen abzunehmen.

Von Wolfsburg bis nach Rüsselsheim ist alles grün und öko, solange es dafür viel Kohle gibt, die man rasch verbrennt, unter anderen auch ein ganz kleines bisschen für Propaganda und Heuchelwerbung, in der dann zu lesen steht, wie beherzt und selbstlos man die Mobilitätswende zum Besseren betreibt. Angesichts dieser Praxis ist das Ankleben an Straßen und Gegenständen eine harmlose Übung, die ein wenig an jene verzagten Christen erinnert, die angesichts drohender Gewalt vor den Aggressoren betend knieten.

Das reicht zwar nicht für eine Wende, aber für den Märtyrer. Den brauchen wir aber gerade nicht.

5. Alles Gute, ganz ehrlich

Moral ist eben nicht Moralisieren. Moral ist Charakter, also Selbstverantwortung. Und Selbstverantwortung lässt sich nicht einfach verordnen und plakatieren. Vielleicht schaffen wir ja trotzdem ein paar Schritte nach vorn, vielleicht durch eine Art kulturelles und soziales Reverse Engineering. Wenn es so ist, dass das Changewashing und das Greenwashing die Folge des Untertauchens ins alte Kollektiv ist, in dem niemand persönlich verantwortlich ist und nur das »System« zur Rechenschaft gezogen werden kann – die Grundlage aller Ausrede und Scheinmoral, die heute herrscht – dann wäre es ja richtig, den Vorgang umzukehren.

Wer die Transformation ernst nimmt, macht sie zu seiner persönlichen Angelegenheit, zur eigenen Sache, versteht und erklärt den Kontext dazu, ohne nur auf eins zu sehen. Wir sind ja sonst auch alle so super Netzwerker, oder? Das heißt, wir können mit Komplexität umgehen, was ja in unserer Kultur schon bedeutet: wenn mehr als eine Sache anliegt, die Übersicht nicht zu verlieren. Das Heucheln, das Changewashing, das Greenwashing – das bedeutet nämlich nicht nur, die anderen zu bescheißen. Jede, jeder lügt sich damit auch in die eigene Tasche. Diese Einsicht wäre wirklich nachhaltig. Ehrlich währt am längsten, aber ob man damit weiterkommt, ist und bleibt eine Frage des Charakters, nicht nur des eigenen.

Alles Gute, sofern es euch möglich ist.

WOLF LOTTER ist Autor, Essayist, Gründungsmitglied von brand eins und war dort mehr als 20 Jahre lang Leitessayist. Er schreibt Bücher, etwa über Diversität: Unterschiede. Wie Vielfalt für mehr Gerechtigkeit sorgt oder Zusammenhänge. Wie wir lernen, die Welt wieder zu verstehen (beide Edition Körber). Seit Herbst erscheint sein Podcast Trafostation (Haufe). Er ist Mitglied des PEN Berlin.

Dieser Beitrag ist im März 2023 in taz FUTURZWEI N°24 erschienen.