Montagsinterview mit Milka Reich: "Mir geht es nicht um Orgasmen"
Im Schaufenster eines Kreuzberger Ladenlokals steht ein Buddha. Drinnen warten auf die Kunden eine Sitzgruppe und eine Art Zelt mit vielen Kissen und Decken. Hier massiert Milka Reich Männer - junge, alte, auch behinderte. Fast immer bis zum Höhepunkt. Seit zehn Jahren schon verkauft Reich Berührungen.
taz: Frau Reich, weiß Ihr Vermieter, was Sie hier machen?
Milka Reich: Ja, da war ich ganz offen. Am Anfang dachte ich, ich krieg den Laden nicht. Aber es hat geklappt.
Sie nennen sich selbst Berührerin. Was genau bieten Sie an?
Die Frau: Milka Reich, 1965 geboren, zog aus der bayerischen Provinz 1988 zum Studieren nach Berlin. Sie war Meisterschülerin an der Hochschule der Künste. Nebenher zeichnet sie Comics. Mit ihrem Lebensgefährten und zwei Töchtern wohnt sie in Kreuzberg.
Der Job: Unter dem Namen "Milka Reich" bietet sie seit zehn Jahren Berührungen als Dienstleistung in einem Kreuzberger Ladengeschäft an. Eine Sitzung à 90 Minuten kostet 120 Euro. Zu ihren KundInnen gehören Männer und Frauen bis ins hohe Alter, auch Menschen mit Behinderung.
Das Berufsbild: In der Schweiz, in Österreich und Deutschland wird eine Ausbildung zur SexualbegleiterIn durch Beratungsstellen angeboten. Vor dem Hintergrund des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung richtet sich die Sexualbegleitung in erster Linie an Menschen mit Behinderungen. In der Regel müssen die Dienste privat finanziert werden. (mh)
Eine körperliche Form der Begegnung. Authentische Berührungen. Das ist ein grundlegendes Bedürfnis, aber manche Menschen haben leider keinen Zugang dazu. Die meisten Kunden sind Männer zwischen 30 und 60 Jahren, der Älteste ist 84. Einige leben in einer Beziehung, andere wurden seit Jahren nicht berührt. Es kommen Künstler, Polizisten, Geschäftsleute, Handwerker. Darunter auch Menschen mit Behinderung.
Wie finden Kunden zu Ihnen?
Sie rufen mich an, weil sie meine Anzeige gelesen haben oder auf meiner Homepage waren.
Was steht denn in der Anzeige?
Das wechselt immer. Zu Weihnachten hatte ich zum Beispiel „Schöne Berührung“ statt „Schöne Bescherung“ und dazu meine Internetadresse. Ich inseriere in der Rubrik „Erotische Massagen“, das ist schon sehr rotlichtlastig, aber was anderes gibt es ja nicht. Ich habe schon mal angeregt, dass die Magazine eine neue Rubrik „Berührungen“ aufmachen. Ohne Erfolg.
Was sagen die Männer am Telefon?
Die wenigsten melden sich mit Namen. Manche fragen „Wie siehst du aus?“, dann frage ich: „Ist das denn wichtig?“ Oder: „Ziehst du dich aus?“ Ich frage dann: „Würdest du dich denn vor jeder Frau ausziehen, die dich besucht?“ Die Antwort ist natürlich: „Nein.“ Und dann kommt: „Was passiert denn da genau?“
Und was passiert da genau?
Das weiß ich vorher nicht. Man bucht bei mir keine bestimmte Leistung. Ich bin kein Supermarkt für Berührungen – „ein Finger 2 Euro“ oder so. Ich gehe mit dem Kunden auf eine Ganzkörperreise. Ich stelle Fragen mit den Händen, der Körper antwortet. Ich lausche und spreche mit ihm. Da sind Elemente aus Thai-Massage, klassischer Massage und Shiatsu dabei. Aber nichts ist ritualisiert oder ideologisiert.
Ein bisschen genauer möchte ich es schon wissen. Die Kunden kommen her und legen sich auf die Matte …
Nein, so schnell geht das nicht. Wir setzen uns erst einmal hin und reden. Ich frage immer, warum jemand zu mir kommt. Manche erzählen dann viel, manche wenig. Aber das Sprechen ist mir wichtig. Später, auf der Matte, wird ja auch gesprochen – nur körperlich. Da kann der eloquenteste Typ plötzlich wie ein Stein daliegen. Und ein anderer, der vorher kaum ein Wort rausgekriegt hat, lässt sich völlig fallen. Diese Diskrepanz erstaunt mich immer wieder.
Gibt es eine typische Körperstelle, mit der Sie anfangen?
Beim ersten Mal ist es häufig der Rücken, weil das eine gewohnte Berührung ist. Auch nicht gleich auf der nackten Haut, sondern mit der Decke dazwischen. Dann ist nichts mehr vorhersehbar. Bei mir kommt nicht erst das linke Bein und dann das rechte. Ich taste mich im wahrsten Sinne des Wortes voran. Wenn sich der Kunde darauf einlässt, wird es spannend.
Wie erotisch wird das Ganze?
Auch das weiß ich vorher nicht. Meist entscheidet sich das im Verlauf der Reise. Wenn Erregung entsteht, schaue ich, was ich damit mache. Tatsächlich spreche ich mit Schwänzen.
Das müssen Sie erklären.
Schwänze sind ganz spannende Organe. Man sieht Ihnen unmittelbar an, wie es ihnen geht. Ich stelle ihnen Fragen, das heißt, ich tippe sie an. Dann zeigen sie sich oder eben nicht. Aber das passiert alles ganz langsam. Auf jeden Fall ist der Schwanz keine tabuisierte Zone, er gehört einfach dazu. Er steht aber auch nicht so im Mittelpunkt, wie das im Rotlichtmilieu der Fall ist.
Wo ist die Grenze?
Es gibt keinen Sex in Form von Penetration.
Das sagen Sie auch deutlich?
Je öfter ich sage: „Ich bin keine Prostituierte“, desto mehr hört derjenige: „Eigentlich ist sie doch eine Prostituiere.“ Deshalb spreche ich darüber gar nicht, das ist einfach klar. Es gibt aber auf der anderen Seite auch Sitzungen, die sind so intensiv, dass man fast sagen könnte, man hätte miteinander geschlafen, obwohl es keine Penetration gab. Wo fängt Sex an und wo hört er auf? Mir geht es um den Kontakt, nicht um Orgasmen. Viele Menschen begreifen das hier zum ersten Mal.
Es gibt keine Übergriffe?
Doch. Oft schon am Telefon. Diese Nummern speichere ich mir dann unter „Vollidiot 1, Vollidiot 2, Vollidiot 3 …“. Da geh ich dann gar nicht mehr ran. Und auf der Matte auch manchmal, gerade in der Erregung. Dann lege ich die Hand des Kunden schön zurück oder rede mit ihm darüber. Oft kommt dann: „Du sollst doch auch was davon haben.“ Aber um mich geht es hier nicht. Die allermeisten finden gerade toll, dass sie selbst nichts machen müssen.
Die Erwartung, dass am Penis angefasst wird, ist sicher da. Gibt es Bereiche, die Sie berühren, bei denen die Überraschung groß ist?
Neulich hatte ich einen Kunden, der war ganz erstaunt, was er bei einer Berührung am Ellenbogen empfand. Da wird man ja kaum angefasst. Ein großes Tabu ist der Analbereich, obwohl die Berührung dort vielen Frauen und Männern gefällt. Ich merke an der Reaktion, ob derjenige das will. Manchmal wird mein Finger quasi angesaugt. Das hat ganz viel mit Vertrauen und Hingabe zu tun. Für Männer ist es das Erlebnis der Penetration, das muss gar keine sexuelle Komponente haben.
Empfinden Sie nie Ekel?
Doch. Die Männer duschen vorher bei mir, aber wenn sie rauskommen und die Füße stinken immer noch total, schicke ich sie nochmal rein. Aber die körperliche Form ist mir egal. Es kommen welche, die sind übersät mit Narben, auch sehr dicke Leute, das stört mich gar nicht. Hinter der Form sind alle gleich. Das gilt auch für Behinderte. Für die hat meine Arbeit noch einmal einen ganz anderen Stellenwert, da ist das etwas Existenzielles.
Weil ihnen vielfach die Sexualität abgesprochen wird?
Man sieht immer die Behinderung und nicht das sexuelle Wesen. Da kommt ein Mensch, der hat den Körper eines Kindes, aber die Bedürfnisse eines Mannes. Oder ein Heim rief mich an, weil sie einen Bewohner haben, der sich manisch selbst befriedigt. Der war Mitte 20 – wo soll der hin mit seiner Energie? Nach der Sitzung war er so gelöst, dass die Betreuer meinten, ich müsse jede Woche kommen. Aber das kann er sich nicht leisten.
Wie oft kommt es bei den Sitzungen zum Orgasmus?
Prinzipiell kann man bei mir auch wieder gehen, ohne zu kommen. Aber der Orgasmus ist schon ein regelmäßiger Bestandteil. Einige wenige sind tantrisch drauf und wollen die gewonnene Energie nicht durch den Orgasmus verlieren. Viele können aber mit so viel Erregung nicht nach Hause gehen. Mit manchen lache ich, wenn sie sagen: „Ich muss erst noch abspritzen, weil mir die Eier sonst wehtun.“ Aber die Menschen kommen nicht für den Orgasmus selbst, sondern für den Weg dorthin. Deshalb gehe ich lange mit ihnen an der Kante entlang. Das Reizvolle ist die erotische Spannung in der Entspannung der Massage. Wenn dann der Orgasmus das Ganze abschließt, fallen die meisten in eine völlige Entspannung und können kaum noch was sagen, wenn sie gehen.
Wie viele Kunden haben Sie am Tag?
Wenn ich eine Sitzung am Tag habe, ist das genug. Ganz selten habe ich zwei, die lege ich aber weit auseinander.
Lässt sich davon leben?
Es gibt Monate, da klappt das, in anderen wieder nicht so gut. Aber das, was ich hier mache, geht auf keinen Fall im Akkord. Ich bin oft ziemlich fertig nach einer Sitzung. Es gibt Menschen, die saugen einen richtig aus. Diese Schwammmenschen sind so bedürftig, einsam, leer. So eine Leere kann ich gar nicht füllen.
Wie kamen Sie zu dem Job?
Als Künstlerin hatte ich immer Probleme mit dem Geld. Als ich mit Mitte 30 immer noch gekellnert habe, dachte ich, jetzt ist Schluss. Ich bin Menschen schon immer gern körperlich begegnet, habe viele Jahre lang Körperarbeit, Workshops und Therapien gemacht, getanzt. Die Arbeit als Berührerin war schlicht das Ergebnis dieser Erfahrungen, meine ganz persönliche Mischung. Mein jetziger Lebensgefährte unterstützte mich darin, und es funktionierte von Anfang an. Damals haben auch noch ganz wenige den Zwischenraum zwischen Prostitution und medizinischer Massage bespielt. In anderen Ländern war man da viel weiter. In der Schweiz gibt es sogar schon eine Ausbildung zur Sexualbegleitung.
Ist das das Gleiche wie Ihre Arbeit?
Sexualbegleitung richtet sich vor allem an Menschen mit Behinderung. Bei mir gehören sie dazu, sind aber kein Schwerpunkt.
War von Anfang an klar, dass bei dem Job eine erotische Komponente dabei sein muss?
Für mich war das klar, weil ich ein sehr körperlicher Mensch bin. Ich habe immer viel mit Männern zu tun gehabt. Es ist wichtig in diesem Beruf, dass man keine Angst vor Männern hat. Dazu kam noch eine besondere Sinnlichkeit. Ich bin Synästhetikerin und habe eine besondere Körperwahrnehmung.
Inwiefern?
Ich berühre den Körper eines anderen Menschen, weiß aber in diesem Moment selbst, wie sich das anfühlt.
Wann haben Sie gemerkt, dass Sie Synästhetikerin sind?
Als Kind schon. Wochentage hatten für mich immer feste Farben. Der Montag hat ein herrliches Orange. Außerdem machen Pflanzen Geräusche. Gladiolen zum Beispiel läuten. Als Kind hat mich das isoliert: Ich war in meiner Parallelwelt mit Farben und Klängen. Später habe ich das zu nutzen gelernt: als Buchbinderin, Malerin, Tangotänzerin.
Jetzt streicheln Sie Männer gegen Geld. Was erzählen Sie Ihren Kindern eigentlich über den Job?
Denen sage ich, ich gebe Ganzkörpermassagen. Genau das macht ja den Unterschied zu einer Prostituierten aus. Ich interessiere mich für den ganzen Menschen und nicht nur für den Schwanz. Ich verkaufe Aufmerksamkeit und Zuwendung, die umfassend und sehr individuell ist.
Sie haben gesagt, berührt zu werden sei ein existenzielles Bedürfnis. Ist es nicht traurig, wenn man dafür zahlen muss?
Jeder Mensch hat Sehnsucht nach Berührungen, aber in unsere Kultur wird kaum angefasst. Sobald wir erwachsen sind, wird jede Sinnlichkeit als sexuell angesehen und oft tabuisiert. Deshalb gibt es diesen Bedarf. Man könnte sicher überlegen, die Arbeit auf Spendenbasis zu machen: Jeder gibt, so viel er kann. Aber ich muss natürlich auch von etwas leben.
Wer berührt Sie eigentlich?
Wenn Sie meinen, ob ich selbst auch brauche, was ich hier gebe: auf jeden Fall. Ich besuche viele Seminare mit Körperarbeit und lasse mich regelmäßig massieren. Ohne erotische Komponente allerdings.
Männer buchen erotische Massagen, Frauen Wellness …
Tatsächlich scheint es für Männer selbstverständlicher zu sein, sich Zuwendung zu kaufen.
Was ist der Unterschied zwischen gekauften und nicht gekauften Berührungen?
Eine gekaufte Berührung kann mehr Freiraum bieten. Man ist konzentrierter und unbelasteter, weil man emotional nicht verstrickt ist.
Kann jeder Berührungen anbieten?
Prinzipiell ja. „Berührerin“ ist kein geschützter Begriff. Ich habe mich einfach als Freiberuflerin beim Finanzamt angemeldet.
Und was tragen Sie in der Steuererklärung als Tätigkeit ein?
Berührerin. Sollen die doch gucken, was das ist. Manchmal lege ich einen Flyer dazu.
Und? Ist ein Finanzbeamter als Kunde vorbeigekommen?
(lacht) Bisher nicht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“