Montagsinterview mit Karin Wylicil: "Säcke voller Tränen"
Sie hat tatsächlich einen Koffer in ihrem Büro: Karin Wylicil versucht, mit ihrem Projekt "Gepäckabgabe" Menschen zu helfen, über Schicksalsschläge zu sprechen und diese zu verarbeiten.
taz: Frau Wylicil, bei einer Gepäckabgabe gibt man Koffer, Taschen und Rucksäcke ab und will später jedes einzelne Stück wiederhaben. Sie bieten hingegen eine Gepäckabgabe an, bei der Menschen Lasten abgeben können, die sie nicht zurückhaben wollen. Was hat es damit auf sich?
Karin Wylicil: Bei mir geben die Leute ihr inneres Gepäck ab, das sich angesammelt hat.
Wer denn?
Es kommen Menschen jeglichen Alters, Männer und Frauen, aus allen Teilen der Stadt. Sie sind betroffen von einem plötzlichen Todesfall, haben Probleme in der Beziehung, mit den Schwiegereltern, den eigenen Eltern, den Kindern, Stress im Job oder sind in einer Orientierungsphase. Es kommen auch Manager und Führungskräfte mit Liebeskummer, über den sie mit ihren Kollegen nicht reden können. Jeder von uns reist und hat Koffer dabei. Ich helfe ihnen, ihr Gepäck einfacher zu tragen und es sortierter mitzunehmen.
Wie helfen Sie denn den Menschen?
Allein Das-von-der-Seele-Reden, das gemeinsame Sprechen, das Zurechtrücken ist schon erleichternd.
Warum reden diese Menschen gerade mit Ihnen?
Die Menschen kommen zu jemandem, der sie überhaupt nicht kennt, der nichts mit der Familie, dem Partner, Freunden, Kollegen zu tun hat - und sie können einfach alles rausrotzen. Viele erleichtert auch das Weinen, manche frieren und brauchen eine Decke. Deshalb habe ich in meiner Gesprächsecke eine Box mit Taschentüchern, einen Papierkorb und eine Decke. Die Leute bringen Säcke voller Tränen mit.
Karin Wylicil, 38, wuchs im Sauerland auf und hat in Mainz und Berlin Tschechisch und Bibliothekswissenschaften studiert. Seit sie mit 16 Jahren Sigmund Freuds "Abriss der Psychoanalyse" las, interessiert sie sich für Psychologie.
Als Studentin pflegte sie ihre krebskranke Mutter bis zu deren Tod, ein ehemaliger Freund nahm sich das Leben. Seit März 2009 hat sie sich in den Räumen einer logopädischen Praxis in der Bänschstraße in Friedrichshain eingemietet und bietet eine Gepäckabgabe der besonderen Art an. Wer zu viel Gepäck, Sorgen, Ängste, Nöte mit sich herumschleppt, kann bei ihr abladen (www.gepaeckabgabe.de).
Wylicil sieht sich als Brücke vom Patienten zum Therapeuten. Bisher haben sie etwa 50 Menschen aufgesucht. Die "Gepäckler" zahlen, was ihnen die Beratung wert ist. Ihr eigentliches Geld verdient Wylicil mit Online-Pressemeldungen und Workshops zu Twitter und anderen Online-Netzwerken. Dieses Jahr will sie eine Prüfung zum Heilpraktiker für Psychotherapie ablegen.
Was genau passiert bei Ihrer Gepäckabgabe?
Die Menschen schleppen meist seit längerer Zeit Sorgen mit sich herum und überlegen, ob sie irgendwo hingehen sollen oder nicht. Wenn sie zu mir kommen, suchen sie sich einen Tee aus, und wir setzen uns hin. Ich gebe ihnen einen Zettel zum Unterschreiben, auf dem steht: Mir ist bewusst, dass die Gepäckabgabe keine psychotherapeutische Behandlung darstellt, sondern lediglich eine Beratung im Sinne von Lebensberatung, Coaching und Therapieformen.
Was passiert dann?
Ich frage sie, ob sie schon einmal eine Therapie oder ein Coaching gemacht haben. Wer eine Therapie machen will, bekommt ein Faltblatt mit den wichtigsten Beratungs- und Anlaufstellen, und ich erkläre die Unterschiede zwischen Verhaltenstherapie, tiefenpsychologisch fundierter Gesprächspsychotherapie und Psychoanalyse. Oft wissen die Leute nicht, dass die Kasse eine Therapie bezahlt, dass es fünf Probestunden gibt, was es überhaupt für zugelassene Formen gibt. Manchem ist auch geholfen mit der Vermittlung eines Coaches, der sie auf ihrem Berufsweg begleitet.
Sie arbeiten als Onlinejournalistin und sind keine Therapeutin oder Psychologin. Wie wissen Sie, was das Richtige ist?
Ich entscheide nichts, sondern sage nur, dass wir zusammen herausfinden können, was sie bedrückt. Ich versuche, die Hemmschwellen abzubauen, und erkläre den Leuten, dass sie mit einem Therapeuten genauso reden können wie mit mir oder einem Freund, also völlig offen und vertraut.
Was ist bei Ihren Gesprächen anders als bei Gesprächen mit einem Psychiater, mit Psychologen oder Therapeuten?
Man kriegt bei mir schneller einen Termin. Im Ernst: Es gibt ein großes Problem. Rafft sich jemand auf und ruft bei einem Therapeuten an, bei dem nur der Anrufbeantworter angeht oder der gerade keinen freien Platz hat, dann ist es für denjenigen nicht trotz, sondern gerade wegen seiner Probleme schwer, bei der Stange zu bleiben. Deswegen wählen manche gerne das "Überwintern" bei mir, bis sie irgendwo ankommen. Der Fokus liegt auf der Weiterleitung. Ich will eine Brücke sein vom Patienten zum Therapeuten.
Ist so eine Brücke denn überhaupt nötig?
Leider ja. Die Vorurteile gegenüber der Psychotherapie sind vielfältig und so präsent wie eh und je, mit leichter Tendenz zur Besserung. Wer an das Wort Gepäckabgabe denkt, sieht: "Ah, da ist jemand, mit dem ich reden kann." Wer an Psychotherapie denkt, verbindet das mit: "Ich bin krank, ein Versager, habe nicht mehr alle Tassen im Schrank, soll womöglich noch Tabletten nehmen. Ich doch nicht." Die Gepäckabgabe ist eine Anlaufstelle, eine Therapievermittlungsstelle, die Menschen aufklärt, dass absolut nichts Verwerfliches daran ist, eine Therapie in Anspruch zu nehmen. Wer sich Hilfe holt, ist mutig und gesünder als manch anderer, der seine Macken auslebt.
Und wenn jemand selbstmordgefährdet ist?
Wer suizidal ist, muss natürlich sofort ins Krankenhaus. Schizophrenie ist ebenfalls ein schlimmes Leiden, bei dem Betroffenen und Angehörigen geholfen werden muss, indem man auch sie über Anlaufstellen informiert. Was wir hier machen, ist keine Therapie, aber es hat einen therapeutischen Effekt.
Worin besteht dieser Effekt?
Darin, dass sich die Menschen durch das Reden befreit fühlen, leichter. Manchmal auch darin, dass sie ihre Probleme erkennen, ihre Schwierigkeiten in Angriff nehmen, sich an einen Therapeuten wenden, Hilfe annehmen. Oder sie fangen an, Bewerbungen zu schreiben, wieder unter Menschen zu gehen, zu lachen, die Orientierung wiederzufinden. Andere trauen sich, jemandem ihre Liebe zu gestehen oder eine vergebliche Liebe endlich aufzugeben. Das ist sehr individuell.
Wollen Sie mit Ihrem Projekt die Therapie salonfähig machen?
Genau. Ich möchte Menschen ermutigen, aus der eingefahrenen Denkweise, Therapien seien was Schlimmes, auszusteigen, Verantwortung zu übernehmen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen, sich begleiten zu lassen.
Was befähigt Sie dazu, Menschen, die unter Umständen in einer sehr schwierigen Situation sind, zu helfen?
Das ist sehr heikel. Die Frage ist ja: Was traue ich mir selbst zu und was darf ich überhaupt? Es laufen viele herum mit einer zweimonatigen Coach-Ausbildung oder einem Zertifikat von einem Wochenendseminar und stochern in den Seelen von Menschen herum. Ich bin nicht befähigt, an Leuten herumzudoktern.
Was unterscheidet Sie dann von denen, die, wie Sie selbst sagen, in den Seelen von Menschen herumstochern?
Zunächst einmal stochere ich nicht. Ich vermittle. Ich verspreche keine Heilung, wie das so viele am Markt tun, sondern Unterstützung. Viele Jahre lang haben mir Freunde, Bekannte oder Kollegen Leute geschickt mit der Bitte, diesen mal zuzuhören und mit ihnen zu besprechen, was für sie sinnvoll wäre. Oft treffe ich auch Leute im Zug, auf Messen oder in Restaurants, die mir sofort von ihren Problemen erzählen.
Wieso vertrauen sich gerade Ihnen wildfremde Menschen an?
Viele sagen, ich hätte etwas Mütterliches und Tröstendes und könne gut auffangen, die richtigen Fragen stellen, Wichtiges auf den Punkt bringen. Deshalb habe ich beschlossen, daraus ein Projekt zu machen. Die Gepäckabgabe ist mir eine Herzensangelegenheit.
Warum?
Es ist mir mit meinem eigenen beladenen Weg ein tiefes Bedürfnis, meine Erfahrungen weiterzugeben als jemand, bei dem man sich ausweint und mit dem man dann überlegt: "Mensch, der ging es auch mal so - wie könnte es denn jetzt bei mir weitergehen?"
Was für Tiefen haben Sie selbst erlebt?
Meine Mutter hat Brustkrebs bekommen, da war ich gerade 15 Jahre alt. Ich wurde von der Schule befreit, um sie zu pflegen. Für mich war das normal und kein Grund aufzuschreien. Sie hatte dann noch einmal neun gute Jahre, und als ich angefangen habe zu studieren, habe ich sie begleitet bis zum Sterben, da war ich 28 Jahre alt. Zudem hatte ich eine sehr anstrengende Beziehung. Ich hatte mich getrennt und der Mann hat sich das Leben genommen.
Wie sind Sie damit umgegangen?
Es ist nicht so, dass ich zusammengebrochen bin. Ich bin einfach weiter mit meinem Gepäck. Ich habe mich für den Selbstmord schuldig gefühlt, und ich hatte ständig vor Augen, mich um meine Mutter kümmern zu müssen, möglichst mit einem freundlichen Lächeln. Das ist verdammt schwer, wenn man eigentlich schon nicht mehr kann.
Wo haben Sie denn Ihr Gepäck abgegeben?
In einer langen, langen Psychoanalyse. Ich hatte viele Ängste, war oft sehr niedergeschlagen. Nach dem Tod meiner Mutter und dem Selbstmord meines ehemaligen Freundes habe ich mein Studium wieder voll aufgenommen. Erst in der Analyse habe ich gemerkt, was ich wirklich für Probleme habe.
Und konnten Sie diese Probleme lösen?
Es hat viele Jahre gedauert, bis ich Vertrauen aufbauen konnte, abladen, heulen, kämpfen, die Dinge anders sehen, noch mal durchleben, ordnen. Das war großartig! In der Zeit habe ich mich auch immer damit beschäftigt, dass ich Menschen helfen will.
Sie hatten selbst allerhand zu bewältigen und wollten sich trotzdem mit den Problem anderer beschäftigen - warum?
Jeder Mensch hat eine Nase, zwei Augen und zwei Ohren, aber jeder sieht anders aus und hat eine andere Geschichte. Das finde ich total spannend und interessant! Deshalb schlägt mein Herz dafür, anderen Menschen zu helfen. Ich verstehe die. Ich kann mich in die reinfühlen. Ich weiß, wie es einem geht, der sagt, er wäre lieber tot; wie einem zumute ist, der jemanden pflegt und sich unter Druck fühlt. Ich weiß, wie wichtig es ist, wenn man wo sitzen und heulen kann.
Die Kosten der Gepäckabgabe übernimmt nicht die Krankenkasse. Wie funktioniert die Bezahlung?
Die Gepäckler zahlen, was sie können, was ihnen angemessen scheint. Dafür habe ich ein kleines Bastköfferchen. Das Honorar ist sehr unterschiedlich. Als ich noch keinen Praxisraum hatte, habe ich das auch mal für Pralinchen oder Blümchen gemacht. Das geht jetzt nicht mehr, weil ich Miete zahlen muss. Selbstständige oder Führungskräfte legen schon mal 120 Euro rein, Arbeitslose 20 bis 40. Bei 20 Euro arbeite ich kostendeckend. Zurzeit kommen acht Leute regelmäßig, und es ist ausgewogen.
Leben können Sie von ihrer Gepäckabgabe also nicht?
Noch nicht. Eine eigene Praxis wäre schön, und es wäre super, wenn sich das Konzept hält, dass die gut Verdienenden die weniger Verdienenden mittragen.
Was sind Ihre weiteren Ziele?
Manche Leute möchte ich gerne länger begleiten oder tiefer mit ihnen arbeiten. Deshalb will ich auch eine Prüfung zum Heilpraktiker für Psychotherapie machen und mich weiterbilden, später auch Psychologie studieren. Fundierte Ausbildung ist unabdingbar. Deshalb vermittle ich auch nur zu Therapeuten mit fundierter Ausbildung.
Haben Sie ein Helfersyndrom?
Helfersyndrom in dem Sinne, dass ich das brauche: nein. Ich helfe gern, und es macht mir Spaß. Ich ziehe da ja auch etwas für mich raus. Man hat Anerkennung, die Zuneigung von dem, dem man geholfen hat. Das kann zur Sucht werden, und dann kommt man mit seinem eigenen Mist nicht mehr klar. Das Problem habe ich nicht. Ich gebe meine Sachen ja auch ab. Ich habe Freunde, bei denen heulend am Telefon hängen oder nach einem Tee schreien kann. In gewissen Abständen gehe ich selber zur Therapie, damit ich im Reinen bin. Weitere Maßnahmen sind Supervision und Weiter- und Ausbildung.
Wie viele der "Gepäckler" sind bei Ihnen an der richtigen Adresse - und wie viele vermitteln Sie weiter?
Fifty-fifty.
Wer ist vollkommen falsch bei Ihrer Gepäckabgabe?
Wer mit einem richtigen Koffer in der Hand kommt.
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