Monatgsinterview mit Ilse Biberti: "Ich bin für die Abschaffung aller Heime"
Ilse Biberti pflegt seit viereinhalb Jahre ihre beiden Eltern. Ihr Vater starb 2008, jetzt lebt sie bei ihrer kranken Mutter. Den Beruf als Autorin und Regisseurin hat sie dafür vorübergehend aufgegeben.
taz: Frau Biberti, entschuldigen Sie, dass ich Ihren Tagesplan durcheinanderbringe. Normalerweise müssten Sie jetzt bei Ihrer Mutter sein.
Ilse Biberti: Sie haben recht. Aber bis 12 Uhr ist jemand bei ihr. Das habe ich so organisiert.
Wie fühlt es sich an, seit Jahren nach einem straffen Zeitplan zu leben, den die Pflege vorgibt?
Ich bin es ja gewohnt. Auch als Regisseurin hat man eine klare Disposition. Allerdings meist nur für einen Monat, manchmal für ein halbes Jahr - je nachdem, an was für einem Projekt man gerade arbeitet.
Sie tun das seit Jahren nonstop.
Ja, ich habe sozusagen Bereitschaftsdienst seit viereinhalb Jahren. Als mein Vater noch lebte, war auch nachts nicht Schluss. Das geht voll an die Substanz.
Ilse Biberti wurde 1958 in Berlin geboren. Sie machte eine Schauspielausbildung und studierte Theaterwissenschaft, Publizistik und Politologie.
Anschließend war sie in vielen Rollen am Theater und im Fernsehen zu sehen. Später arbeitete sie vor allem als Drehbuchautorin (etwa für den "Tatort") und Regisseurin ("Praxis Bülowbogen").
Seit 2005 pflegt sie zu Hause ihre Eltern. Ihr an Alzheimer erkrankter Vater starb 2008, ihre Mutter benötigt eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung.
Mit dem einstigen Bremer Bürgermeister Henning Scherf hat sie ein "Mutmachbuch" über das Alter veröffentlicht: "Das Alter kommt auf meine Weise", erschienen im Südwest-Verlag, 288 Seiten, 16,95 €
Sie waren in den letzten Jahren jederzeit für Ihre Eltern da. Andere hätten es sich einfacher gemacht und sich für ein Pflegeheim entschieden. Gab es den Moment, wo Sie dachten: Ich schaffe es nicht mehr?
Das geschieht wellenförmig. Am Anfang wusste ich gar nicht, was mich erwartet. Als meine Eltern 75 waren, sagte ich zu ihnen: "Wir müssen uns mal zusammensetzen und überlegen, was wäre, wenn?" Sie wollten aber nicht darüber reden. Als sie 77 waren, fragte ich noch mal, mit 80 auch. Mein Vater gab mir schließlich einen Ordner und erklärte: "Hier ist alles drin - wenn was ist, weißt du Bescheid."
Hat das ausgereicht?
In den Ordner reingucken lassen hat er mich damals nicht. Ich wollte wenigstens eine Patientenverfügung machen - mein Vater sagte dazu nur: "Wir wollen dann einfach sterben - und Schluss." Natürlich haben sie nie eine Patientenverfügung ausgefüllt. Aus heutiger Sicht hätte ich mehr Druck machen müssen. Aber es ist ja auch unangenehm: Du kommst dir so vor, als wenn du es ihnen reindrücken willst. Nach dem Motto: Ihr seid älter und es geht euch jetzt schlechter.
Es scheint in den meisten Familien ein Tabu zu sein, über das Älterwerden zu sprechen.
Es ist auf jeden Fall ein Tabu. Nicht nur in Familien, sondern überhaupt für jeden Menschen. Niemand will gern alt und abhängig sein.
Und der Tod, ist das ein Tabuthema?
Weniger, glaube ich. Das ist so abstrakt und weiter hinten. Es ist vielmehr ein Tabu, über das Sterben zu reden. Weil man ja nicht einfach tot ist, sondern es zwei, drei, fünf oder zehn Jahre dauern und ein langsamer Prozess sein kann. Auch der eigentliche Prozess des Sterbens verläuft nicht im Sinne von: "Ach, heute ist Montag, und Mittwoch bin ich tot." Im Normalfall dauert es länger. Über die Frage "Wie will ich das erleben?" muss gesprochen werden.
Ihr Vater hat schon einige Jahre vor seinem Tod immer wieder zu Ihnen gesagt: "Ich will nicht mehr."
Das meine ich. Schon die letzten 16 Jahre sagte er, er habe genug erlebt und könne jetzt bald mal sterben. Vielleicht gehört das zum Weg zum Tod mit dazu. Wir konnten es irgendwann jedoch nicht mehr hören. Als er dann in die Alzheimer-Phase gekommen ist, hat er immer wieder mit mir diskutiert, wie ich ihn am besten umbringen könnte.
Hatte er einen würdigen Tod?
Er ist im letzten Moment gestorben, wo es für ihn und für uns alle noch würdig war. Er hat mich immer noch erkannt. Er war immer noch in der Wohnung, halbwegs orientiert. Aber er wusste nicht mehr, weshalb man auf die Toilette geht. Was in Folge dessen natürlich wahnsinnig qualvoll war. Weil das, was er da sah, nicht in Ordnung war und stank - das hat er natürlich gemerkt. Es musste irgendwie behoben werden. Wie bei einem Kind. Nur belastet es bei einem Kind weniger als bei einem älteren Menschen. Für so etwas muss man erst eine Normalität finden.
Hätten Sie Ihrem Vater im Zweifelsfall beim Sterben geholfen?
Ich glaube, er hat wirklich innere Qualen durchgemacht, sterben zu wollen. Ich habe ihm irgendwann das Versprechen gegeben, dass ich ihm helfen würde, wenn es zu heftig werden würde. Doch ich hatte Angst, dass das auf mich zukommt - und war heilfroh, dass es nicht der Fall war.
Wann darf man sterben?
Ich finde: Man muss seinen natürlichen Tod sterben dürfen. Mein Vater ist damals von einem Hospiz noch mal in ein Krankenhaus verlegt worden, da war er schon lange auf seiner Reise in den Tod. Er hat nichts mehr getrunken, ganz anders verstoffwechselt, war eindeutig in der finalen Phase. Im Krankenhaus gibt es jedoch eine Urangst, irgendetwas zu versäumen. Also wird auch einem total dehydrierten Körper eine Infusion gelegt. Damit wird ein Sterben, das schon begonnen hat, wieder auf die lange Bank geschoben. Wäre ich nicht da gewesen, hätten sie ihm sofort eine Magensonde gelegt und die ganzen Medikamente intravenös gegeben. Dann hätte er vielleicht noch zwölf Jahre als "Gemüse" in einem Pflegeheim gelegen.
Nun hatten Sie nicht immer das beste Verhältnis zu Ihren Eltern, es gab Konflikte, Auseinandersetzungen. Wie verändert sich das Verhältnis zu den Eltern, wenn man beginnt, sie zu pflegen?
Die Rollenverteilung war ab diesem Moment eine ganz andere - schließlich bin ich als die erwachsene Ilse ins Kinderzimmer eingezogen. Es ist mir allerdings nicht immer gelungen, in der Adlerperspektive zu bleiben und zu erkennen: Mein Vater redet jetzt so, weil er Alzheimer hat. Wenn ich nicht den Abstand hatte und er mich supergemein getroffen hat, habe ich zurückgebrüllt. Aber ich habe mich auch wieder eingekriegt. Weil ich wusste: Das kann er nicht so meinen.
Besteht nicht die Gefahr, die Hierarchien zu verwechseln? Obwohl sich die Rollenverteilung ändert, bleibt man ja Kind, die Eltern bleiben die Eltern.
Es ist ganz wichtig, dass man das nicht verwechselt. Die Positionen bleiben klar: Vater, Mutter, Kind. Ich bin lediglich das Kind mit erweiterten Kompetenzen. Für mich war das auch ein Lernprozess. Ich bin 1958 geboren und relativ autoritär erzogen worden. Trotzdem musste ich die Führungsrolle übernehmen. Das war schwierig, denn: Wie übernimmt man die Führungsrolle, ohne den anderen zu entwerten? Das hat ganz viel mit Liebe und Anerkennung zu tun.
Wie schafft man es, dass die Liebe zu den Eltern immer Liebe bleibt und in Extremsituationen Gefühle wie Hass oder Ekel keine Chance bekommen?
Wenn man noch alte Rechnungen offen hat, wird es sehr problematisch. Wenn der ehemals Starke jetzt schwach wird und man selber plötzlich diese Macht über ihn haben kann, neigen viele zu Sadismus und leben das auch aus. Es ist ja nichts Neues, dass es ganz viel Gewalt zu Hause gibt, wenn Angehörige pflegen. Von beiden Seiten allerdings. Deshalb finde ich auch, dass jeder, der seine Angehörigen zu Hause pflegt, eine psychologische Begleitung haben sollte. Es ist ja quasi eine Klostersituation.
Sie haben Ihr ganzes Leben zurückgestellt, um sich um Ihre Eltern zu kümmern.
Ja, ich hab alles komplett stehen und liegen lassen.
Wie sah Ihr Leben zu diesem Zeitpunkt aus?
Ich war eine freie und ungebundene Mediennomadin: bin gependelt zwischen Paris, München, Berlin, New York und immer wieder an die Weltmeere. Als Regisseurin folgt man seiner Arbeit, das kann überall sein.
Von einem Moment auf den anderen haben Sie alles aufgegeben?
Hape Kerkeling sagt: "Ich bin dann mal weg." Ich habe gesagt: "Ich bin jetzt da." Wie gesagt: nicht wissend, auf welchen Zeitplan ich mich da einlasse. Es hat mir einen anderen Reichtum beschert.
Was meinen Sie damit?
Es war für mich schmerzlich mitzuerleben, wie die Fähigkeiten meiner Eltern immer reduzierter wurden. Früher sind sie bis nach Afrika gereist, irgendwann reichte die Kraft noch bis zum Italiener an der Ecke, später nur noch bis zur Toilette. Wir haben das Beste daraus gemacht, das Leben trotzdem genossen und gelacht. Der Reichtum, den sie mir eröffnet haben, ist ein innerer Frieden. Das Leben zu lieben - unabhängig von Erfolg, Anerkennung, Leistung. Ich brauche nicht mehr die große Erregung im Beruf, um mich wohl zu fühlen.
Sie haben sich ganz bewusst für den Weg der häuslichen Pflege entschieden. Können Sie andere verstehen, die sagen: "Ich kann das nicht" - und ihre Eltern ins Pflegeheim geben?
Ich habe mir natürlich auch Pflegeheime angeguckt und gesehen, wie es da zugeht. Es muss jeder für sich verantworten können. Ich könnte das nicht.
Sie haben keine Kinder. Gab es Zeiten, wo Sie darüber nachdachten: Was wird mit mir, wenn ich mal Hilfe brauche?
Genauso wie alle denke ich natürlich, ich werde nie alt.
Ist es für Sie weit weg?
Das erste Mal darüber nachgedacht, dass ich kein Kind habe, habe ich, als mein Vater starb. Ich dachte: Dieses Gefühl, das ich gerade verspüre, wird ein direkter Blutsverwandter bei meinem Tod nicht haben. Aber ich glaube an Wahlverwandtschaften.
Das Leben anbieten und das Alter positiv sehen, so wie Sie es vorhin beschrieben haben, das ist das, was Sie auch mit Ihrem Buch bezwecken wollen. In der Gesellschaft werden alte Menschen allerdings oft nur als Kostenfaktor wahrgenommen.
Dabei sind sie vor allem auch ein Einkommensfaktor. Die Wachstumsbranche ist die Altersbranche. Ganz wenige sind auf Sozialleistungen angewiesen, die meisten haben vorgesorgt. Sie schaffen der Branche der Seniorenheime Arbeitsplätze. Eigentlich sind sie Arbeitgeber. Sie kurbeln die Wirtschaft an. Man denke an die Pharmaindustrie und die ganzen Services wie Essen auf Rädern.
Wo sich Geld verdienen lässt, finden sich auch schwarze Schafe. Sie bezeichnen in Ihrem Buch Pflegeheime als die "Vorstufe zur Hölle". Ist der Zustand tatsächlich so schlimm?
Ich kenne auch fünf, sechs gute Heime. Aber es ist falsch gedacht: Ein alter Mensch will nicht nur mit alten Menschen zu tun haben und sehen, ob der andere vor ihm oder nach ihm stirbt. In Alten- wie in Pflegeheimen ist man zum Nichtstun gezwungen. Es ist keine Gemeinschaft, die zusammen etwas tut, außer irgendwie Zeit zu verbringen. Ich bin für die Abschaffung aller Heime.
Und dann?
Machen wir es lieber wie die SOS-Kinderdörfer. Kleine Gruppen mit generationenüberschneidender Besetzung, die füreinander da sind.
Das kostet doch viel mehr.
Viel weniger. Ein alter Mensch braucht kein neonausgeleuchtetes Haus mit rutschfesten Böden und irgendwelches Kliniktralala. Außerdem: Was passiert mit den ganzen Möbeln von den Leuten, die in Pflegeheime gehen? Allein wenn die Wohnungseinrichtung der Altersheime nicht von einem Großkonzern käme, sondern die Bewohner ihre Möbel mitbringen würden, hätte man schon Kosten gespart ohne Ende.
Es geht doch aber vor allem auch um Pflegekräfte.
Der Personalschlüssel sowohl in Pflege- als auch Altersheimen ist ein Desaster. Es geht ja aber gar nicht nur um die direkte physische medizinische Pflege. Dann kann ja jemand kommen und das machen. Es geht vor allem um die Zeiten dazwischen. Da bin ich doch auch Mensch.
Das heißt genau?
Es geht um Gemeinschaft. Und wenn da ein Kind kommt und am Bett Hausarbeiten macht, ist derjenige eingebunden. Nicht zuletzt: Wenn eine arbeitslose Mütter, die Hartz IV bekommt, in der Pflege arbeiten würde, ohne dass sie das gleich angerechnet bekäme, könnte man sogar in der direkten Nachbarschaft Lösungen finden.
Sie haben die Zeit mit Ihren Eltern als die kostbarste Zeit Ihres Leben bezeichnet. Würden Sie alles wieder genauso machen?
Wenn ich zurückblicke, bin ich eins mit mir. Das ist ein ziemlich glückliches Gefühl. Natürlich bin ich nicht stolz darauf, dass ich irgendwann auch mal ausgeflippt bin und mit einer Krücke auf den Teppich gehauen und dabei den Kronleuchter touchiert habe. Aber auch das darf sein. Anders gemacht? Nee.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin