■ Mit den Folgen des GAU auf du und du: Mörderische Jahre
Kiew (dpa/AFP/AP/taz) – Der Präsident der Ukraine weigerte sich zum ersten Mal, an einer Tschernobyl-Gedenkfeier am 26. April teilzunehmen. Leonid Kutschma verließ Kiew und weilt zu einem Staatsbesuch in Prag.
Mag sein, daß ihm die neuesten Zahlen über die Opfer des Atomunfalls unerträglich vorkommen: Allein in der Ukraine sind 6.000 der bei Lösch- und Aufräumarbeiten eingesetzten „Liquidatoren“ gestorben, teilte das ukrainische Gesundheitsministerium kurz vor dem neunten Tschernobyl-Jahrestag mit.
Dabei werden die Todeszahlen von Jahr zu Jahr bedrückender: Mehr als ein Drittel der 6.000 Liquidatoren starb im vergangenen Jahr. Insgesamt sind von den 2,5 Millionen Menschen, die in der Ukraine als Betroffene registiert sind, mittlerweile etwa 125.000 gestorben. Auch hier zeigen sich allmählich die Langzeitfolgen der Katastrophe: Die Zahl der Todesfälle lag mit fast 36.000 im Jahr 1994 bislang am höchsten.
Die Statistiker im ukrainischen Gesundheitsministerium verzeichnen seit 1986 einen starken Anstieg von Schilddrüsenkrebs bei Kindern: Über 500 Kinder sind daran erkrankt; vor 1986 gab es in der Ukraine etwa fünf Fälle von Schilddrüsenkrebs pro Jahr. Bei den Helfern, die nach der Katastrophe eingesetzt wurden, haben sich Krankheiten aller Art vervielfacht: Das ukrainische Gesundheitsministerium spricht von einer Steigerung um den Faktor 15. Eine weitere Zunahme wird erwartet.
Zwei Reaktoren des Kernkraftwerks Tschernobyl sind weiter am Netz. Greenpeace Ukraine forderte gestern die sofortige Abschaltung der beiden Blöcke. Doch die Regierung der Ukraine will auf den Tschernobyl-Strom nicht verzichten. Lediglich bis zum Jahr 2000 sei das Abschalten möglich – und das auch nur, sofern die westlichen Staaten dafür Finanzhilfen von über gut fünf Milliarden Mark zur Verfügung stellen.
Während in der Ukraine inzwischen zumindest wesentliche Daten über die Tschernobyl- Folgen verfügbar sind, mauern die Behörden und Politiker im benachbarten Weißrußland immer noch. Dort sind etwa 70 Prozent des radioaktiven Niederschlags gefallen, erheblich mehr als in der Ukraine. Vermutlich liegt deshalb die Zahl der Todesfälle und Erkrankungen noch wesentlich höher. Doch die Statistiken für Weißrußland werden vom Staat unter Verschluß gehalten.
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