Mit Rückenwind: Der Ruhrtalradweg
Von der Quelle bis nach Duisburg: Die Radstrecke entlang der Ruhr führt durch die Mittelgebirgslandschaft des Sauerlands zum Industrie-Kultur-Raum Ruhrgebiet
Auch an diesem sonnigen Samstagmorgen ist der Dortmund-Sauerland-Express wieder radvoll. Über 100 Räder mit ihren Fahrern spuckt der Regionalzug am Bahnhof Winterberg aus. Denn hier beginnt der neue Ruhrtal-Radweg. Einige wollen nur eine Tagesetappe machen, andere wollen wie wir die Ruhr auf dem Radweg begleiten, bis sie in Duisburg in den Rhein mündet. 230 Kilometer liegen vor uns. Wie jeder richtige Fluss fängt auch die Ruhr klein an. Ein dünner Strahl wie aus dem Wasserhahn. Die Ruhr entspringt in 674 Meter Höhe am Nordhang des Ruhrkopfs im Hochsauerland. Und war bis vor kurzem eine Quelle der Bescheidenheit: eine gemauerte Einfassung, ein Gedenkstein von 1849, ein paar Sitzbänke. Seit aber tausende Radler die Quelle ansteuern, wurden die ersten Flussmeter renaturiert und umgestaltet: Man fällte Bäume und lichtete Gehölze, entfernte Rohre, sanierte die Einfassungsmauern und legte einen Steg an.
Anreise: Ruhrquelle und -mündung sind gut mit der Bahn zu erreichen. Der RE 57 (Dortmund-Sauerland-Express) verkehrt samstags, sonn- und feiertags stündlich und montags bis freitags alle zwei Stunden von Dortmund nach Winterberg. An Tagen mit stark erhöhter Nachfrage werden zusätzlich Entlastungsbusse mit Radanhängern vom Hbf. Dortmund aus eingesetzt. Zwischen Dortmund und Duisburg fahren der RE1, der RE6 und der RE11. In allen Nahverkehrszügen können Räder mitgenommen werden. Auskunft unter (0 18 03) 50 40 30 (Bus & Bahn in NRW)
Unterkunft: "Qualitätsbetriebe RuhrtalRadweg" mit radlerfreundlichem Service und alle anderen Unterkunftsadressen stehen auf der Homepage des Ruhrtalradwegs sowie im "Tourguide 2008" der Spiralo-Karte.
Ausgewählte Adressen: Hotel Menge an der Schlacht in Arnsberg, Tel. (0 29 31) 5 25 20, www.hotel-menge.de, Landgasthof Wellenbad in Schwerte-Geisecke, Tel. (0 23 04) 48 79, www.landgasthof-wellenbad.de
Die ersten Kilometer schlängelt sich das Bächlein, nach dem später ein ganzes Gebiet benannt ist, plätschernd durch die Wiesen. Nebenan auf der B 480 brummen mit Baumstämmen beladene Laster und röhren motorisierte Biker in schwarzer Kluft. Meist radeln wir aber oberhalb der Ruhr auf Schotterwegen durch den Wald, dazwischen liegen lichte Hänge, entweder kahl rasiert oder mit Bartstoppeln von Baumstümpfen. War es Orkan "Kyrill" oder Sturmtief "Emma", die hier ganze Arbeit geleistet haben? Hinter Niedersfeld, dem ersten Dorf an dem jungen Flüsschen, ragt ein Achthunderter auf. Der Langenberg, Nordrhein-Westfalens höchster.
Ein Pulk grellbunter Radrennfahrer, der durch Assinghausen rast, hat keine Augen für das Golddorf, das 1989 den Bundeswettbewerb "Unser Dorf soll schöner werden" gewann. Herausgeputzte Fachwerk- und Schieferhäuser, jedes zweite ein Gasthaus oder eine Ferienwohnung.
Es riecht förmlich nach Erholung. Mittendrin das Denkmal für den 1827 hier geborenen Heimatdichter Friedrich Wilhelm Grimme (den "Strunzerdäler"), der Werke wie "Man soll keinen Jungen ersäufen" oder "Blümlein der Andacht" hervorgebracht hat.
Die Sonne strahlt sommerwarm, der Wind kommt von hinten, meist geht es bergab. Blühende Wiesenhänge und Mischwälder, Schafe und Kühe, Scheunen und Holzstapel säumen den Weg. So weit, so schön. Doch im Sauerland geht die Radroute meist auf Distanz zum inzwischen schon fünf Meter breiten Fluss. Ruhr, wo bist du? Das Gefühl, an einem Fluss entlangzuradeln, wie man es zum Beispiel von der Elbe oder dem Main kennt, will sich partout nicht einstellen. Kein Wunder: Nur zu 12 Prozent führt der Weg am Wasser entlang (später im Ruhrgebiet sind es immerhin 44 Prozent). Stellenweise verlässt der Weg die Talsohle - dann müssen wir den Berg hochasten - und wird zum Höhenweg; stellenweise verläuft er lange Kilometer eintönig an einer Bundesstraße, erst rechts, dann links. Schnell durch hier. Vor Olsberg aus müssen wir eine Umleitung fahren, weil an dieser Stelle die Autobahn A 46 weitergebaut wird. In Bestwig gibts den Truckstopp Futterkiste, Scheunentrödel und dumpfe Beats aus aufgemotzten Schlitten. Satt sehen können wir uns auch an den Kulturen von Nadelhölzern. Denn das Sauerland ist Christbaumland: Jeder vierte deutsche Weihnachtsbaum kommt aus dem "Land der 1.000 Berge", die Edeltanne wird schon ab 3 Euro angeboten. In vielen Orten werben Plakate für eine weitere Spezialität der Gegend: die Schützenfeste.
Unter der Regie des Regionalverbands Ruhr haben in zwei Jahren 23 Anrainerstädte und Gemeinden im Ruhrgebiet und Sauerland gemeinsam die Infrastruktur der Wege verbessert und aus großenteils bereits bestehenden Strecken einen durchgehenden, inzwischen gut beschilderten Fernradweg entwickelt. Neue Wegabschnitte wurden auf ausgedienten Bahntrassen angelegt, schlechte Uferstrecken asphaltiert, eigene Radbrücken über verkehrsreiche Straßen geführt, touristische Infotafeln aufgestellt, und schließlich wurde die gesamte Route einheitlich ausgeschildert. Die Tourismusstrategen von Ruhrgebiet und Sauerland wollen mit der Ruhrroute möglichst schnell in die Erste Liga der Radfernwege von Elbe und Weser, Main und Donau aufsteigen. Sie setzen auf den einzigartigen Spannungsbogen von der Mittelgebirgslandschaft Sauerland zum Industrie-Kultur-Raum Ruhrgebiet, von Wäldern, Heide und Mooren über Burgen und Fachwerkstädtchen zu den "Erlebnisstationen" der vergangenen Kohle- und Stahlzeit wie der Henrichshütte und der Villa Hügel, dem Bergwerk Ramsbeck und dem Styrumer Wasserturm. Laut Radreiseanalyse des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC) steht der Ruhrtalradweg bereits auf Platz zehn der meistbefahrenen Radfernwege hierzulande.
Wir sind jetzt reif für Meschede. In der Sauerländer Landbäckerei will es eine neugierige Kundin wissen: Sind Sie Radfahrer? Ja. - Fahren Sie kein Auto? Doch! - Aber Rad fahren bei schönem Wetter ist schöner, woll?! Sicher! Hinter Freienohl, wo die Ruhr lieblich mäandert, sucht eine Einheimische Anschluss. Die flotte 50-plus-Raddame dreht ihre Feierabendrunde. In Oeventrop leitet sie uns durch die "Negersiedlung". "Die heißt so, weil hier alle Häuser schwarzgebaut wurden."
Vor uns liegt das Etappenziel Arnsberg, auf dem Bergrücken thront die kurfürstliche Schlossruine. Unsere Raddame macht kehrt. Schade. Nette Dönekes einheimischer Mitradler geben dem Weg die Würze. Das Hotel Menge an der Schlacht gehört zum Netzwerk der radfahrerfreundlichen "Qualitätsbetriebe Ruhrtalradweg". Schlacht, weil früher das gestaute Wasser von hier in die höher gelegene Altstadt gepumpt wurde, erklärt uns Inhaber Christoph Menge, der eine feine regionale Küche anbietet. Seine Frau erzählt beim Frühstück, dass an schönen Tagen nicht nur ihr Hotel, sondern ganz Arnsberg voll mit Radlern sei. Reservierung empfohlen.
Der nächste Morgen. Niedereimer, Obereimer, Bruchhausen. Ruhr, wo bist du? Wir passieren Industrie- und Gewerbegebiete, Wohnsiedlungen, Waldstücke. Ab Neheim haben wir endlich wieder Kontakt zur Ruhr - leider auch zur Autobahn, die, nur durch eine grüne Wand getrennt, neben uns rauscht. Von einer Holzkanzel - "Station zur Beobachtung einer naturnahen Fließstrecke der Ruhr" - überblicken wir die Ruhraue Bachum, wo der Fluss vor 15 Jahren seinem natürlichen Lauf überlassen wurde.
Sauerland, ade, willkommen im Ruhrgebiet. Von jetzt an verläuft der Radweg meist am Flussufer. Schön und eben. Wir passieren goldgelbe Rapsfelder, sattgrüne Wiesen und mausgraue Äcker, Herrenhäuser und Wasserschlösser, Ruhrauen, in denen Eisvögel nisten und Kröten laichen. Essen selbst gebackenen Kuchen auf dem Biolandhof Ohler Mühle und trinken ein Radler in der ehemaligen Pumpstation Rohrmeisterei. Treffen überall auf sportive Rentler - diese Spezies von Rentner und Radler, die meist im männlichen Doppelpack auftritt. An der ehemaligen Zeche Nachtigall kommen auch wir nicht vorbei. Die Wiege des Ruhrbergbaus im lauschigen Muttental bei Witten, die erste Tiefbauzeche des Reviers, aus der das "schwarze Gold" zutage gefördert wurde, ist heute ein attraktives Industriemuseum mit Zechen- und Ziegeleigebäuden und Besucherstollen.
Ein paar Radlängen weiter bringt uns die kleine Fähre "Hardenstein", die nach der nahen Burgruine benannt ist, ans andere Flussufer zur Schleuse Herbede. Das mit Wasserkraft betriebene, extra für den neuen Radweg gefertigte Schiffchen setzt an Spitzentagen bis zu 2.000 Personen über, erzählt der Fährmann. Zwischen Bochum und Essen radeln wir auf alten Leinpfaden, auf denen im 19. Jahrhundert Arbeitspferde die Kohlekähne stromaufwärts treidelten. Knorrige Weiden tauchen ihre Äste ins Wasser, Schwäne und Kanuten teilen sich den Fluss.
Das alles ändert sich schlagartig am Essener Baldeneysee, einem von fünf Stauseen im Mittleren Ruhrtal. Vor allem bei Wochenend und Sonnenschein wie heute. Dann tobt der Kampf der Freizeitsportkulturen: Fußgänger und Radfahrer, Jogger und Inlineskater kommen sich auf dem ziemlich breiten Weg am Hardenbergufer sehr nahe, manchmal auch böse in die Quere. Tack, tack, tack stöckelt eine Nordic-Walking-Kampftruppe in breiter Front über den Asphalt. "Die kannze alle inne Tonne kloppen", mosert eine gewöhnliche Spaziergängerin. Am Haus Scheppen, früher ein adliges Lehnsgut, gesellt sich noch die Bikerfraktion dazu, Ledermänner und -frauen aus DU, MH, OB und BO mit ihren knatternden Kisten. Bei Kettwig hat sich die Ruhr ausgestaut. Vorbei an eingezäunten Flächen zur Wassergewinnung führt jetzt der holprige Schotterpfad gnadenlos auf die Autobahnbrücke auf turmhohen Betonstelzen zu, die das weite Flusstal überspannt und die Bauernhäuser und Pferdekoppeln darunter wie Märklin-Spielzeug aussehen lässt.
In Mülheim haben die Planer den Radweg mit viel Geschick zusammengepuzzelt, er führt durch den Schlossgarten Broich und über den Naturlehrpfad, durch die Styrumer Ruhraue zum imposanten Wasserturm mit dem multimedialen Wassermuseum. Es dämmert schon. Zeit zum Endspurt. In Duisburg-Ruhrort wird die Ruhr im labyrinthischen Hafengebiet noch einmal industriell hart rangenommen. Wir finden unseren Weg auf dem geschotterten Deich zwischen Fluss und Rhein-Herne-Kanal, zwischen Hafenarmen und Schleusenbecken mit Blick auf Halden von Kohle und Altmetall, Containertürme und Dutzende von Kränen. Dann verschwindet die Ruhr im Rhein. Von der Promenade mit der Schifferbörse und dem Museumsschiff "Oskar Huber" schauen wir auf die mächtige Stahlstele "Rheinorange", eine Landmarke, die das Flussende signalisiert.
Die alte Ruhr hat alles gegeben, sie war Energiequelle und Wasserlieferant, Transportweg und Erholungsraum. Über "Angelika", dem rheinabwärts tuckernden Lastkahn, taucht die Sonne zartrosa ins Wasser. Auf einer Decke sitzen zwei junge Türkinnen, die eine gibt der andern Nachhilfe in Deutsch. "Es heißt: Meine Eltern warten auf mich. Auf wen warten sie? Auf mich. Verstehst du?" Wir beißen in eine Currywurst, dann ist auch für uns Schicht im Schacht.
Wolfgang Quickels, Herne
Zehn Tage lang fuhr Wolfgang Quickels mit Rad und Kamera von der Quelle der Ruhr bis nach Duisburg. Was den Reiz dieser Tour ausmacht, beschreibt er so: "Hier erfährt man, wie die Urlaubslandschaft, die massive Industralisierung und die Entwicklung zum Freizeitfluss mit- und gegeneinander gekämpft haben."
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