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■ Mit Otto Sander ins neue Raucherjahr. Oder über den Nil. Oder war's der Jordan?Bei Anruf Ringelnatz

44,5 Haare verdecken mühsam seine in Falten gelegte Denkerstirn; aus Tränensäcken leuchten ein paar dunkle Augen hervor; Furchen umspielen seinen Schnurrbart. Die eine Hand ruht auf einem Buch; mit der anderen – zwischen ihren abgespreizten Fingern eine glühende Zigarrette – stützt er seinen schweren Intellektuellenkopp, der aus dunklem Jackett und weißem Hemdkragen heftig heraussinniert. Irgendwo steht „Was ist der Mensch?/ Die Nacht vielleicht geschlafen/ doch vom Rasieren wieder schon so müd'/ noch eh' ihn Post und Telefone trafen/ ist die Substanz schon leer und ausgeglüht...“ Darunter ist ein Name gedruckt: Otto Sander.

Mit diesem schwarzweißen Werbeplakat wirbt derzeit die Tabakfirma Regie für ihre Zigarettenmarke Nil – und lädt freundlich ein: „Mit Kultur aus dem Jahr: Bei Anruf Lesung. Otto Sander anrufen, zuhören, eine rauchen. Tel: 0190-250888.“

Was will uns diese Werbung sagen? Sollen Raucher, die wegen ihres ungezügelten Lasters vereinsamt sind, nicht zum Hörer greifen, um sich einen Profikiller anzuheuern, der sie am 31. Dezember pünktlich um 24 Uhr aus ihrem verquarzten Leben schießt – à la „Liebe Mutti, mein Vorsatz fürs neue Jahr: Ich hör' Silvester auf zu qualmen. Ich weiß auch wie: ich laß mich abknallen“? Sollen diese Menschen also weiterrauchen und mutterseelenalleine „mit Kultur“ das neue Jahr begrüßen? Telefonseelsorger Sander im Gehörgang, frische Fluppe in der Klappe – herzlich Willkommen, neues Jahr, schön, daß du da bist?

Die zehnstellige Telefonnummer verspricht Antworten. Doch die angenehm verrauchte Frauenstimme, die vom Band abgenudelt wird, säuselt nur: „Bei Anruf Lesung. Otto Sander liest für Nil aus dem Werk von Joachim Ringelnatz. Das kostet Sie pro Minute nur DM 1,21. Infos zu Talk-Line blablablabla. Sitzen Sie bequem? Aschenbecher in der Nähe? – Dann kann's ja losgehen!“ – Und schon brummelt Sander los. Er rezitiert „Überall ist Wunderland, überall ist Leben...“; er knötert schwörend „Ich habe dich so lieb...“ und gibt darüber hinaus „noch einige Sprüche von Joachim Ringelnatz“ zum besten: „Das Abc ist äußerst wichtig/ Im Telefonbuch steht es richtig“. Usw., usf.

Schauspieler Sander will also tatsächlich im Auftrag von Nil den einsamen und entrechteten Rauchern zum Jahreswechsel eine kuschelig-flauschige Nikotindecke ausbreiten; ihnen signalisieren, daß das Leben doch eigentlich lustig ist und bunt und schön und wertvoll, auch wenn man wegen seines unangenehmen Mundgeruchs ziemlich alleine dasteht. Danke Otto; danke Nil; danke, danke, danke! Indes: Kaum hat man die Finger nach der Decke ausgestreckt, da entreißt Sander sie einem auch schon wieder: „Auf Wiederhören“ – tutututututututut.

Das ist brutal! Da spart sich so manch ein Zeitgenosse den Kontrakt-Killer, der ihn um Punkt 24 Uhr aus dem Leben pusten sollte, zahlt für zwei Gedichte und einige Sprüche DM 3,03 – und dann das: Silvester ist vorbei, Otto Sander hat aufgelegt, und du bist immer noch ein einsamer Raucher. Nein, lonesome Smoker, laß dich ruhig umnieten – mit einer Kugel bist du ruck, zuck! über den Nil. Im Reich der Toten gibt es keinen Mundgeruch – und mithin auch keine Einsamkeit. Aber das Wichtigste ist: Im Reich der Toten wird Anubis dich, Raucher, der du dich entleiben läßt, zu Joachim Ringelnatz führen, der dir seine Gedichte dann selber aufsagen kann – telefongebührenfrei.

Und vielleicht führt dich der ägyptische Totengott auch zu Gottfried Benn. Sollte der lauthals über das „kanaanitisch braune, schmalschuhige Raubpack, das Triefauge Sander, diesen Nasenpopel aus einer Konfirmandennase“, fluchen, wundere dich nicht! Von Benn nämlich, und nicht von Sander, stammen jene Zeilen, die mit der Frage beginnen: „Was ist der Mensch?/ Die Nacht vielleicht geschlafen...“ Dabei hätten viel eher diese Verse aus Benns Gedicht „Melancholie“ zur Nil-Reklame gepaßt: „...Noah strahlt, die Arche streift auf Land/ und einmal ist der Fluß der Flüsse, Antonius küßt die braune, schmale Hand:/ die Ruriks, Anjous, Judas, Rasputin/ und nur dein eigenes Heute ist nicht drin.“

„Aber Sander ist eben“, sagt Benn und hakt sich freundschaftlich bei Ringelnatz unter, „ein Alles-zum-besten-Nenner/ den trifft die Stunde nicht/ ein solcher Schattenkenner/ der trinkt das Parzenlicht.“ Björn Blaschke

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