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Archiv-Artikel

■ Mißfelders verbale Ausfälle nicht als individuelles Versagen zu den Akten legen Konditioniertes Gekläffe

betr.: „Grundrente statt Generationenkrieg“, Kommentar von Heide Oestreich, taz vom 11. 8. 03

Gratuliere, Frau Oestreich, für den treffenden Kommentar auf Seite1 ! Da werden klar die „Stellvertreter-Debatten“ und die unsoziale Denkweise der geplanten Renten- und Gesundheitsreform benannt. Und auf Seite 7 sagt es Herr Frerichs noch einmal: Es gibt nicht Familien und Kinderlose, Alte und Junge in der Gesellschaft, sondern Begüterte und sozial Benachteiligte. Und der Verteilungskampf findet zwischen diesen statt.

Und wenn sich die taz dieser Problematik annehmen würde und das wachsende Nichtverantwortlichfühlen der Politiker für das Wohl der Gesellschaft nicht nur mit Satire und Zynismus begleitet, sondern Leute zu Wort kommen lässt (nicht nur vereinzelt), die Alternativen entwickeln können bzw. entwickelt haben, wäre dies sehr begrüßenswert. Die Grünen als Lobbyisten der gut verdienenden Lehrerschaft haben sich aus dieser Debatte der Verantwortung für die Sozialschwachen längst verabschiedet, und die PDS ist nur mit sich selbst oder mit der Unterstützung von Lohnkürzungen der Berliner Angestellten beschäftigt. Momentan gibt es in Deutschland keine politische Kraft, die sich ernsthaft gegen den Strom der Asozialisierung und Liberalisierung aller gesellschaftlichen Bereiche stellt. Dies zu benennen und Alternativvorschläge immer wieder in die Öffentlichkeit zu bringen – wie Grundrente oder eine Krankenkasse für alle, Gesunde wie chronisch Kranke – wäre Zeitungsarbeit von unschätzbarem Wert.

ANGELIKA KEUNE, Berlin

betr.: „Rürups reiner Rentenwein“, „Alte übernehmen Pflege selbst“, „mißfelder macht’s“, „Pro und contra Mißfelder“, taz vom 11. 8. 03

Die Reaktionen der so genannten öffentlichen Meinung auf die Äußerungen des JU-Vorsitzenden zu den brüchigen Knochen von Senioren sind so political correct wie verlogen. Ihre Raffinesse liegt in der wortreichen und empörten Verschleierung von Zusammenhängen, ohne deren Verstehen solche verbalen Ausfälle allzu leicht als individuelles Versagen zu den Akten gelegt werden. Eine eher unheilige Dreifaltigkeit von geistigem, politischem und ökonomischem Kalkül schafft erst das gesellschaftliche Klima, in dem feindselige Einstellungen gegen Menschengruppen entstehen können.

Herr Mißfelder ist verantwortlich für seine verbale Dreistigkeit, aber schuldig sind die, die radikalen Sozialabbau noch als Gnadenakt für die Schwachen und Armen verkaufen; die mit einer Gesundheitsreform, die selbst im Bereich von Gesundheit und Krankheit den Klassencharakter der Lebensverhältnisse spürbar werden lässt, ihre Opfer mit „mehr Selbstverantwortung“ verhöhnt; die mit der Abstrafung der Langzeitarbeitslosen durch Kürzung der ohnehin zu kurzen Existenzbasis, Menschen, die sich nicht durch die Knebelung in „jeden Job“ demütigen lassen wollen, durch Drohung mit Lebensmittelkarten unmenschlicher Praxis ausliefern; die, last not least, Millionen von Kindern durch diese Maßnahmen jede Lebensperspektive rauben.

Wer mit dem Bankengeheimnis hemmungslos die Abzocker in der Gesellschaft zu Lasten ihrer Verlierer schützt, wer in die maßlose Privatisierung gesellschaftlich produzierten Reichtums zu Lasten der eigentlichen Produzenten nicht eingreift, wer gezielt und mit perfider Absicht einen der menschlichen Gattung eigenen Generationenkonflikt zu einem Krieg zwischen Jung und Alt puscht, schafft den sozialen Raum, in dem Verächtlichkeit gegenüber Schwächeren und Arroganz von Macht und Wohlstand sich paaren und Reaktionen zeugen, die denen des Pawlow’schen Hundes ähneln: Konditioniertes Gekläffe, wenn das Glöckchen der Absahner in Ökonomie und ihrer Lakaien in Politik läutet. Diese Atmosphäre des politisch sanktionierten Feldzugs gegen Schwache und Arme verbindet die Hüftgelenke von alten Menschen mit dem „Abschied von den Ideologien“ (Schartau), mit der Verunglimpfung von „demokratischem Sozialismus“ (Scholz) und der phrasenhaften Leier von „wir können uns die aufgeblasenen Sozialsysteme nicht mehr leisten“ (SPD, Grüne). Wer ernsthaft meint, „soziale Gerechtigkeit“ sei eine Frage der Definition (Schartau und Konsorten) und nicht eine der praktischen Solidarität derer, die haben, mit denen, die nicht haben, befindet sich auf einem sozialen Feldzug gegen Letztere, dessen Auswüchse zwangsläufig sind, und er wird immer häufiger über verwundete und tote Opfer stolpern. KARL-HEINZ BARTENS-WINTER, Wuppertal

GÜNTER REXILIUS, Mönchengladbach

Letztlich sollte es bei der Rentendiskussion doch darum gehen, wie eine Erwerbstätigkeit bis ins hohe Alter hinein realisierbar ist. Ältere Menschen können sehr wohl leistungsstark und kreativ sein, gerade dann, wenn es darum geht, übergeordnete Zusammenhänge zu durchblicken und komplexe Lösungen zu finden. Auch sehnen sich viele junge Leute danach, dass verantwortungsbewusste ältere Menschen ihnen den Rücken frei halten, um die eigenen Ideen zu verwirklichen.

[…] Nur: Unsere Arbeitswelt ist nach wie vor auf Verschleiß ausgerichtet, nicht auf den nachhaltigen Umgang mit dem Menschen. Raubbau an Wissen, Können und Muskelkraft bestimmt das Arbeitsleben. Die Lebensleistung muss in immer kürzerer Zeit erbracht werden. Ab 50 wird weder in Bildung noch in Personalentwicklung investiert. Stattdessen werden die Sozialkassen durch Frühverrentung geplündert. Dabei ist für immer mehr Menschen Arbeit keine Fron, sondern Quell, um die eigene Selbstwirksamkeit zu erfahren. Das Umdenken muss nicht bei den Beitragszahlungen und Demografiefaktoren beginnen – dies ist ein Thema für Versicherungsmathematiker –, sondern vor allem darin, das Arbeitsleben so zu gestalten, dass auch betagte Menschen einer Aufgabe nachgehen können. Dazu werden neue Altersberufe notwendig werden, neue Formen von Arbeitszeit. […]

KLAUS WESTERMANN, Neu-Edingen

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