Mindestlohn-Debatte: Arbeitskampf unter Genossen
Gilt der Mindestlohn auch für Langzeitarbeitslose? In der SPD ist darüber eine Debatte entbrannt. Arbeitssenatorin sagt nein, Fraktionschef sieht das anders.
Eigentlich hatte Arbeitssenatorin Dilek Kolat (SPD) dem Mindestlohn für Langzeitarbeitslose eine Absage erteilt. Doch nun prescht ihr Genosse Raed Saleh mit eigener Sichtweise vor: „Für mich gibt es keinen Grund, warum wir bei der öffentlich geförderten Beschäftigung von unseren Grundsätzen abweichen sollten“, sagte der SPD-Fraktionsvorsitzende am Dienstag und eröffnete damit eine parteiinterne Debatte.
In den Koalitionsverhandlungen hatte die SPD sogar die Christdemokraten überzeugt: Weniger als 8,50 Euro pro Stunde soll kein von der öffentlichen Hand Beschäftigter verdienen. Unter Rot-Rot waren es noch 7,50 Euro. Der neue Mindestlohn gilt bei allen Aufträgen, die das Land vergibt.
Für Langzeitarbeitslose will Kolat aber andere Spielregeln einführen: Zwar würden sie weiter befristet als Gemeindedolmetscher, Stadtteilmütter oder Mobilitätshelfer arbeiten – wie schon bei dem von der Linkspartei initiierten Öffentlich geförderten Beschäftigungssektor (ÖBS). Aber den Mindestlohn soll es dafür nicht mehr geben. Stattdessen will Kolat lieber mehr Langzeitarbeitslose erreichen und für den ersten Arbeitsmarkt qualifizieren. „Bei allen anderen Maßnahmen der Jobcenter bekommen die Beschäftigten auch keinen Mindestlohn“, sagte Kolat im Dezember der taz.
Im auslaufenden ÖBS verdienen die Beschäftigten mindestens 1.300 Euro im Monat, bei der neuen „Berlin Arbeit“ sollen es nur noch 975 Euro sein. Das entspricht einem Stundenlohn von etwa 5,80 Euro bei 30 Wochenarbeitsstunden plus 10 Stunden verpflichtender Qualifikation. Eine endgültige Neuregelung des öffentlich geförderten Beschäftigungssektors steht noch aus, da die Umsetzung in Berlin von Bundesprogrammen abhängig ist, die bis April neu ausgehandelt werden.
Nach Bekanntwerden von Kolats Plänen hatte die Linkspartei diese als „sittenwidrig“ bezeichnet. Auch beim Berliner Sozialgipfel, einem Bündnis aus Gewerkschaften, Sozalverbänden und Initiativen, spricht man von „erschreckenden Ansichten“. Es sei doch das Mindeste, dass die Beschäftigten so viel bekommen, dass sie nicht trotzdem für Transferleistungen wie Wohngeld Schlange stehen müssten, sagte Geschäftsführer Berndt Maier am Dienstag der taz. „Das ist schon bei 8,50 Euro schwierig“, so Maier. Der Berliner Sozialgipfel fordert eine Anhebung des Mindestlohns auf 10 Euro pro Stunde.
Dass sich nun ausgerechnet der Fraktionsvorsitzende der SPD den Forderungen nach einem Mindestlohn für den öffentlich geförderten Beschäftigungssektor anschließt, lässt Kolat nach eigenen Angaben „gelassen“. Saleh will die Debatte weiterführen: „Bisher gibt es keine Argumente gegen den Mindestlohn, die mich überzeugen“, sagte er der taz.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen