Menschenrechtsaktivistin über Afghanistan: "Auch ohne Burka nicht frei"
Der Wiederaufbau in Afghanistan ist eine Farce, kritisiert die afghanische Menschenrechtsaktivistin Weeda Ahmad. Ihre Organisation will die Vergangenheit aufarbeiten.
taz: Frau Weeda Ahmad, Sie und Ihre Organisation haben es sich zum Ziel gesetzt, die Kriegsverbrecher in Afghanistan vor Gericht zu bringen. Wie viele Kriegsverbrecher sitzen derzeit im afghanischen Parlament?
Weeda Ahmad: Die Regierung Karzai setzt sich zu rund 80 Prozent aus Kriegsverbrechern zusammen. Nachdem sie ins Parlament gewählt wurden, haben sie sich 2006 selbst amnestiert. Der Minister für Energie, der Verteidigungsminister, der Kulturminister, der Justizminister, der Minister für Post und Information und auch der Vizepräsident - das sind alles Kriegsverbrecher. Der Parlamentsvorsitzende Kanuni ist für die Tötung von rund 65.000 Kabulern während der Machtkämpfe in den Neunzigerjahren mitverantwortlich. Außerdem sitzen im Parlament Mitglieder der Talibangruppen, die für die Hinrichtungen im Fußballstadion von Kabul verantwortlich waren.
Sie kritisieren, dass die Hilfsgelder de facto diese Kriegsverbrecher und nicht die afghanische Bevölkerung unterstützen. Können Sie das beweisen?
Nein. Es gibt ja keine Untersuchungen. Wir können nur aus dem, was wie sehen, Schlüsse ziehen. Nach offiziellen Angaben der Geberländer sind bislang rund 15 Milliarden US-Dollar nach Afghanistan geflossen. Doch bislang hat kein nennenswerter Wiederaufbau stattgefunden. Kabul verfügt nur stundenweise über Strom, von fließendem Wasser können wir nur träumen. Straßen, die vor nur zwei Jahren gebaut wurden, sind schon heute kaum mehr befahrbar. Dasselbe gilt für Schulen und andere Projekte. Wir Afghanen bezeichnen diese Projekte inzwischen als Beschäftigungstherapie.
Sind die Nichtregierungsorganisationen effizienter?
In der Regel nicht. Viele bieten Workshops und Weiterbildungsprogramme an. Doch Arbeit, die einen Menschen und seine Familie ernährt, ist für zwei Drittel der Bevölkerung nicht vorhanden. Andere NGOs bohren Brunnen, dabei haben wir viele Flüsse. Doch seit sieben Jahren ist kaum ein nennenswertes Projekt zur Wiederherstellung von Kanälen oder Wasserkraftwerken an den Flüssen in Angriff genommen worden. Unser zentrales Problem ist nicht der Wassermangel an sich, sondern, dass wir das Wasser für die Trockenzeit nicht speichern können.
Was fordern Sie angesichts dieser Misere?
Unser Hauptziel ist es, die Kriegsverbrecher vor ein Gericht zu stellen. Dafür brauchen wir Zeugenaussagen, Beweise und Dokumente. Wir müssen durch das ganze Land reisen, um Familien der Opfer ausfindig zu machen und sie zu befragen. Außerdem haben wir eine Untersuchung der Massengräber verlangt. Aber wie es in Afghanistan seit 2001 üblich ist, gibt es erst mal eine Pressekonferenz, dann wird der Sachverhalt an eine so genannte Kommissionen weitergeleitet. Und dort verschwindet die Akte dann auf Nimmerwiedersehen.
Erhalten Sie keine Unterstützung von Seiten der UNO?
Die UNO-Vertretung in Kabul hat uns versprochen, dass sie eine Gruppe von Sachverständigen aus dem Ausland kommen lassen wird. Aber trotz wiederholter Nachfrage ist dieses Versprechen ohne Ergebnis geblieben.
Wird Ihre Organisation offiziell anerkannt?
Ja, wir sind im Justizministerium registriert. Das erlaubt uns, überhaupt erst tätig zu sein.
Wie finanzieren Sie sich?
Aus eigenen Mitteln. Die unabhängige afghanische Menschenrechtskommission hat uns ein gebrauchtes Auto für unsere Recherchen außerhalb von Kabul angeboten. Wir konnten leider von diesem Angebot kein Gebrauch machen, weil wir die Kosten für Benzin und einen Fahrer nicht zahlen können.
Wie sieht Ihr Alltag aus?
Wie der der meisten Afghanen: Immer auf der Suche nach einer Erwerbsquelle und darüber grübelnd, ob und wie wir nächste Woche unsere Familie ernähren können. Findet einer von uns Arbeit, helfen wir uns gegenseitig aus. Über den Alltag einer Frau innerhalb ihrer Familie - und die meisten in unserer Organisation sind Frauen - muss man nicht weiter reden: Für Haushalt und Kindererziehung sind wir zuständig. Und das sind keine Vierpersonenhaushalte wie in Deutschland. Den Rest können Sie sich selbst ausmalen.
Keine Lichtblicke?
Der Alltag hier raubt einem sämtliche Energie, und das Ergebnis steht in keinem Verhältnis zu den Bemühungen. Es bleibt nicht einmal die Zeit, über die Gefahren nachzudenken, denen wir ausgesetzt sind. Denn unsere Gegner sind sehr mächtig - und sie werden von noch Mächtigeren wie den USA und der UNO unterstützt und geschützt.
Würde es Ihnen helfen, wenn mehr Soldaten nach Afghanistan entsendet würden?
Nein. Wenn die USA ihr Kontingent an Soldaten weiter aufstocken, werden durch ihre Kampfhandlungen nur noch mehr Zivilisten getötet werden. Das Hauptproblem aber bliebe - nämlich, dass Warlords und Kriegsverbrecher in unserer Regierung sitzen. Außerdem verletzt auch die Nato - allen voran die USA - täglich unsere Menschenrechte auf das Gröbste.
Inwiefern?
Derzeit verhandeln sie mit den Taliban und der Hisb-i-Islami von Hekmatjar. Einerseits erklären sie beide zu international gesuchten Terroristen. Andererseits sind sie dabei, sie an der afghanischen Regierung zu beteiligen. Selbst der einfachste Afghane kapiert, wem das nützen soll - und das sind ganz bestimmt nicht die Afghanen.
An der Demonstration gegen die Verletzung der Menschenrechte, die Sie kürzlich in Kabul veranstaltet haben, nahmen etwa 200 Menschen teil - auch Männer. Gibt es emanzipierte Männer in Afghanistan?
Die Männer, die mit uns arbeiten oder mit uns demonstrieren, sind Angehörige von Opfern. Und obwohl die Verletzung der Menschenrechte von Frauen eines der zentralen Probleme bei uns ist - es gibt noch aufgeklärte Männer in diesem sehr rückständigen Land. Aber auch sie praktizieren innerhalb ihrer Familien keine Gleichberechtigung.
Welche Vorurteile des Westens ärgern Sie am meisten?
Im Westen kann man sich nicht vorstellen, dass eine Frau in Afghanistan noch andere - und schwerwiegendere - Probleme hat, als die Burka zu tragen. Und dass es Frauen noch nicht gleich zu freien Menschen macht, wenn sie die Burka ablegen. Zum Beispiel verhindert die Burka auch, dass Männer auf eine Frau aufmerksam werden. So laufen Frauen weniger Gefahr, jemandem zu gefallen, der sie nachts mit Waffengewalt aus ihrem Haus holt und ihnen sonst etwas antut.
Wurden Mitglieder Ihrer Organisation schon bestraft oder verfolgt?
Bislang waren wir in der Öffentlichkeit kaum sichtbar. Bei unserer letzten Demonstration am 12. Juni hat uns das Innenministerium keine Genehmigung erteilt. Wir sind trotzdem auf die Straße gegangen. Daraufhin drohte die Polizei, uns ins Gefängnis zu werfen, und hat einige von uns von der Demo entfernt. Wir wissen, dass die Kriegsverbrecher vor solchen öffentlichen Auftritten Angst haben. Denn natürlich möchten sie, dass ihre Verbrechen in Vergessenheit geraten. Noch sind wir eine kleine Gruppe, das bedeutet für sie noch keine große Gefahr. Wird unsere Zahl aber größer, dann werden sie nicht untätig bleiben.
INTERVIEW: M. NOTTEN, I. KAPPERT
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