■ Meinungsverschiedenheiten in der SPD: Verunklärendes Gewitter
Wenn der überkommene Kodex für den Umgang von Genossen untereinander zerbricht, wenn die von Disziplin, „Geschlossenheit der Reihen“ und von autoritätsfixiertem, allseitigen Wohlwollen geprägten Sitten verfallen, ohne daß irgend etwas an ihre Stelle tritt, zum Beispiel Höflichkeit – wie nennt man das? Repressive Entsublimierung? Die sozialdemokratische Enkelgeneration stand zu Beginn ihrer Karriere unter dem Eindruck der antiautoritären Revolte. Karriererücksichten und die noch aufrecht stehende Ruine solidarischer Verhaltensweisen in der SPD brachten es mit sich, daß die damaligen Juso- und heutigen Parteigrößen nicht den delirierenden Beschimpfungsritualen zum Opfer fielen, die die linksradikale Szene kennzeichnete. Absehbar aber war: Wird es einmal im Getriebe knirschen, werden für Meinungsverschiedenheiten Formelkompromisse nicht zur Hand sein und die Führung es an Charisma (dem früher so verachteten) fehlen lassen, dann wird nicht das Florett regieren, sondern der Holzhammer.
Einem Paterfamilias gleich hat Rudolf Scharping in der Bild am Sonntag (!) Heide Simonis und Gerhard Schröder abgestraft. „Das ist meine letzte Mahnung“, ließ er wissen. Und: „Meine Geduld ist erschöpft, ich lasse mir nicht mehr bieten, daß einige versuchen, aus der Politik ein Kasperletheater zu machern.“ O derbe Einfalt! Ist dem Vorsitzenden wirklich entgangen, daß er selbst es ist, der auf offener Kasperlebühne die Patsche schwingt und weder die mitspielenden Puppen noch das Publikum die mindeste Angst vor seinen Schlägen verspüren?
Schon finden Sozialdemokraten wie Oskar Lafontaine nichts mehr dabei, Befürworter des Einsatzes von Bundeswehr-Tornados in Bosnien in der eigenen Partei als Nato-Champagner schlürfende Schmarotzer zu portraitieren. An Stelle der Streitkultur, die die SPD einst für sich reklamierte, wird jetzt in „Schlagabtausch“ gemacht – selbstverständlich in konstruktiver Absicht. Aber das allseits praktizierte „Sich in die Fresse Schlagen“ hat nichts von einem klärenden Gewitter. Wir erleben den ersten Akt von Pinocchios Zerfledderung. Und selbst wenn das Ergebnis erfreulich sein sollte – die Zuschauer, die nicht nur leicht zu amüsieren sind, sondern auch ab und zu etwas Aufklärung erwarten, werden keinen Nutzen aus dem Schauspiel ziehen. Christian Semler
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen