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Archiv-Artikel

„Mein Kind ist rechtsextrem“

In Braunschweig hat sich das erste Beratungsnetzwerk für Eltern gebildet, deren Kinder den Neonazis zulaufen. Die rechte Szene wird immer jünger

Braunschweig taz ■ „Zuerst trug er nur seine Haare immer kürzer“, erinnert sich Frauke Mayer (Name geändert). Dann zog ihr Sohn eine Bomberjacke mit „White Power“-Aufdruck und Doc-Martens-Schuhe mit Stahlkappen an. Aus seinem Zimmer schallte „Lasst die Messer flutschen in den Judenleib“, an der Wand hingen eine Reichskriegsfahne und ein Plakat „Rudolf Heß – Mord“, erzählt Mayer. Die ersten weniger drastischen Anzeichen der Hinwendung ihres Sohnes zur Neonazi-Szene hatten die Eltern hingegen nicht gesehen. „Wir wollten es vielleicht auch nicht sehen“, räumen sie ein. „Wir waren so entsetzt und hilflos.“

Eine typische Reaktion von Eltern, die mit der Entwicklung ihrer Söhne und Töchter in die neonazistische Szene konfrontiert sind. Und wenn sie den Mut gefunden haben, wegen ihrer Ängste eine Eltern- und Familienberatung aufzusuchen, werden sie oft wieder weggeschickt. „Rechtsextremismus, damit kennen wir uns wenig aus“, hörte auch Frau Mayer. „Keine Einzelerfahrung“, weiß Reinhard Koch, Leiter der „Arbeitsstelle Rechtsextremismus und Gewalt“ in Braunschweig. Seit mehreren Monaten bietet die Arbeitsstelle der „Bildungsvereinigung Arbeit und Leben Niedersachsen“ deshalb eine Beratung für Eltern und Erziehungsberechtigte an.

Die Arbeitsstelle hatte zuvor im Jahr 2003 an über 1.300 Jugendämter oder -hilfen einen Fragebogen verschickt, dessen Rücklauf offenbarte, dass Betroffene und Berater „unzufrieden“ sind. „Einen generellen Informationsbedarf äußerten die Mitarbeiter der Institution“, hebt Koch hervor. Von „Handreichungen über Rechtsextremismus“ bis hin zu „Adressenlisten von Aussteiger- und Beratungsstellen“.

„Die Notwendigkeit dieses Beratungsangebots“, erklärt Koch, erzwang auch die „fortschreitende Verjüngung der rechten Szene“. Schon lange beobachtet die Arbeitsstelle, dass bereits unter Vierzehnjährige sich der neonazistischen Bewegung anschließen. Diese Beobachtung bestätigt das niedersächsische Landesamt für Verfassungsschutz (VS). „Mit dreizehn haben manche schon Kontakt zu rechten Kreisen“, sagt die VS-Sprecherin Sabine Blankenburger. Gezielt rekrutierten die Freien Kameradschaften und die Nationaldemokratische Partei Deutschland, indem sie Schülerzeitungen verteilten und Rechtsrockkonzerte veranstalteten. Gerade die Gruppe der Freien Nationalisten und Neonaziskinheads sei für „sehr junge Jugendliche“ spannend, wissen auch die Verfassungsschutzämter in Hamburg und Bremen, sie schätzen den Zulauf von Kindern aber geringer ein.

Aus allen sozialen Milieus wenden sich Angehörige an die Braunschweiger Beratungsstelle, die mit der Jugendbildungsstätte Lidice-Haus in Bremen zusammenarbeitet.

Den Eltern sei gemein, berichtet Koch, dass sie diese Entwicklung als Entfremdung wahrnähmen und wenig Vorstellung von der rechten Szene hätten. „Wir wussten nicht, welcher Gruppe unser Sohn angehört, welche Symbole welche Bedeutung haben oder wer hinter welchen Flugblättern steht“, sagt Mayer.

ANDREAS SPEIT