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Medizin, die man Kranken nicht vorenthalten kann, oder Droge für konformes Verhalten? Ritalin ist auch bei taz-LeserInnen umstrittenWieso sollen Kinder nicht anstrengend sein? Wir waren es auch

betr.: „Erwachsenwerden mit Psychopharmaka“, taz vom 1. 3. 00

Sollen sehschwache Kinder und Jugendliche keine Brille tragen? Sollen zuckerkranke Kinder kein Insulin bekommen? Der Bericht von Peter Tautfest zur Ritalinproblematik bei ADS-Kindern fällt weit hinter den aktuellen Diskussionsstand zurück. Es ist völliger Unsinn, dass hyperaktive Kinder mit Ritalin „ruhiggestellt“ werden sollen. Als Pflegevater eines Kindes, das sehr stark von Hyperaktivität betroffen ist, weiß ich, wovon ich rede. Diese Kinder sind durch Ritalin überhaupt erst in der Lage, soziale Beziehungen eingehen zu können. In der Schule und bei Gleichaltrigen sind sie als Chaoten, Klassenclowns und Spielverderber verschrien, das Leben in der Familie bringt die Eltern an die Belastungsgrenze.

Selbstverständlich muss eine Ritalintherapie durch ergänzende und begleitende Therapiemaßnahmen unterstützt werden, völlig klar ist: bei vielen Kindern ist ADS so stark ausgeprägt, dass eine medikamentöse Behandlung angesagt ist. Wer diesen Behandlungsansatz in die Nähe von Drogen stellt, zeigt, dass er von der Problematik sehr wenig versteht. AXEL SÜSSKOCH, Nidderau

Auch bei diesem Thema gelangt die Entwicklung in Windeseile von den USA zu uns: Hier in Hamburg gibt es eine Reihe von Kinderarztpraxen, vorzugsweise in den besseren Stadtteilen gelegen, die ohne Skrupel bereits kleinen Kindern Ritalin verschreiben, ohne sich um mögliche Hintergründe oder Alternativen zu kümmern. Die Diagnose „ADS“ wird häufig gestellt, indem festgestellt wird, dass das Medikament wirkt. Das ist ungefähr so, als ob man allen, die sich durch Kaffee belebt fühlen, ein Schlafmützen-Syndrom bescheinigt (Kaffee wirkt bei vielen Leuten belebend ...).

Dabei gibt es meiner Erfahrung nach viele verschiedene Gründe dafür, dass Kinder unruhig sind: Einmal die ganze Reihe gesellschaftlicher Gründe, die zu Bewegungsarmut führen (Verkehr, Medien, Vereinzelung etc.), aber auch Erwachsene, die Kinder erst dann wahrnehmen, wenn sie unruhig sind, oder manchmal auch Kinder, die so verstörende Erfahrungen machen müssen, dass sie nur noch chaotisch reagieren können. Daneben gibt es Kinder, deren Temperament eben so ist (wahrscheinlich die „wahren ADS-ler“), und die, die nicht genügend Leistungen bringen und in den Augen ihrer verantwortlichen Erwachsenen defizitär erscheinen. Mögliche pädagogische Antworten ergeben sich aus den Gründen, helfen aber niemals so radikal wie Ritalin – immer verbleibt an den Erwachsenen der Appell, sich in der Beziehung zum Kind selbst zu reflektieren und gegebenenfalls neben der wohlmeinenden Grenzsetzung auch in Toleranz zu üben.

Ritalin hat nämlich so viele erschreckende Nebenwirkungen, dass man schon sehr unreflektiert das Ziel „still sitzen, Klappe halten!“ verfolgen muss, um ohne Selbstzweifel so ein Mittel zu vertreten. [...] GESA KALBITZER, Dipl.-Psych., Hamburg

Unverantwortlichkeit warf mir die Kinderärztin vor, einem Diabetiker würde man ja auch nicht das Insulin vorenthalten. In einem fast einstündigen Gespräch zeigte ich mich tapfer, und mein Sohn (10) bekommt kein Ritalin. Dafür muss er in Therapie, das wird ihm ja hoffentlich nicht schaden.

Im Beipackzettel von Ritalin steht: Appetitlosigkeit, Gewichtsverlust und dass Ritalin Erwachsene süchtig machen kann, Kinder nicht. Wieso Kinder nicht? Regelmäßige Blutbildkontrollen sind notwendig. Warum? Seitdem ich für das Thema sensibilisiert bin, bin ich erschrocken, wie viele Kinder auch hier in Deutschland Ritalin nehmen.

Kinder, die sehr aufgeweckt oder ein bisschen transusig sind. Die Schulen und auch manche Eltern können anscheinend nur pflegeleichte Kinder ertragen. So ein Zappelphilipp mit ’ner großen Klappe ist natürlich anstrengend. Aber wieso sollen Kinder nicht anstrengend sein? Wir waren es doch auch. MONIKA UHLE

Ich ärgere mich. Ich ärgere mich so sehr, dass ich auf zehn Milligramm Ritalin (übrigens kein Antidepressivum, sondern ein zentrales Stimulanz) verzichten kann, die ich ansonsten nach dem Frühstück genommen hätte, um arbeitsfähig zu sein. Nicht etwa, um geistige „Höhenflüge“ zu vollbringen, sondern einfach nur, um Briefe und Arbeitsberichte zu schreiben. Ganz normale Sachen also, von denen auch in der taz erwartet wird, dass die MitarbeiterInnen die auf die Reihe kriegen. Und ich bin fast ohne Fernseher und mit sehr viel Naturerlebnissen aufgewachsen und trotzdem hyperaktiv geworden.

[...] Menschen mit Attention Deficit (Hyperactive) Disorder (AD[H]D) haben eine angeborene Störung im Neurotransmittersystem und brauchen Stimulation, um unterangeregte Bereiche im Gehirn auf „Normalniveau“ zu bringen. Das betrifft die Gehirnleistungen, die für Reizfilterung und Impulskontrolle zuständig sind. Durch Ritalin (oder andere „Psychodrogen“) werden diese Gehirnbereiche auf die Leistungsfähigkeit gebracht, die bei zirka 95 Prozent der Menschen ohnehin gegeben ist. [...] Eine Behandlung mit Ritalin in der Kindheit kann, wenn sie durch verhaltenstherapeutische u.a. Maßnahmen flankiert wird, das Kind in die Lage versetzen, Routinen für den Lebensalltag zu lernen, die ohne Behandlung nicht oder nur schwer erlernbar sind, weil sich die betroffenen Kinder nicht konzentrieren können. Die Nichtbehandlung von AD(H)D in der Kindheit kann auch dazu führen, dass die positiven Aspekte, die mit dieser Andersartigkeit auch einhergehen (Begeisterungsfähigkeit, Intuition, Kreativität, Hilfsbereitschaft, Empathie...), im späteren Leben nicht gelebt werden können, weil die Betroffenen voll und ganz mit dem Kampf gegen das tägliche Chaos in sich und um sich herum ausgelastet sind. [...] Name undAnschrift sind der Red. bekannt

Die Redaktion behält sich den Abdruck sowie das Kürzen von Briefen vor. Die erscheinenden LeserInnenbriefe geben nicht notwendigerweise die Meinung der taz wieder.

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