Maxim Biller über die Bundeskanzlerin: Dann gnade uns Gott
Sie ist ein kalter Politroboter, der sicherheitshalber allen Recht gibt. Konflikte löst sie, indem sie gar nichts tut. 30 Gründe, Angela Merkel zu misstrauen.
1 Was ist Politik?
2 Der Wille, an die Macht zu kommen, die Kraft, an der Macht zu bleiben, die Klugheit, die Macht im richtigen Moment aufzugeben
3 So gesehen hat Angela Merkel, die deutsche Kanzlerin, bis jetzt - schon fast - alles richtig gemacht
4 In der DDR, als sie noch ein braves FDJ-Mädchen war, ging sie trotzdem regelmäßig in die Kirche und wartete geduldig darauf, ob Gott oder der Kommunismus die letzte Systemschlacht des letzten Jahrhunderts gewinnen wird
5 Es gewann Helmut Kohl und gab ihr in der ersten gesamtdeutschen Regierung das Frauenministerium
6 Wusste er, dass sie früher heimlich auch ein bisschen die Grünen und die Sozialdemokraten verehrte, sicherheitshalber?
7 Sie hat es ihm nicht gesagt, aber als er zehn Jahre später einen entscheidenden taktischen Fehler beging, änderte sie sofort ihre Musterschülerinnen-Strategie, forderte ihn in einem hinterhältigen Zeitungsartikel zum Rücktritt auf und war kurz darauf selbst Chefin der CDU
8 In dieser Zeit gab sie dir ein Interview. Im CDU-Haus an der Klingelhöfer Straße saß dir eine ängstliche, kalte Frau gegenüber, die bei jeder dritten Frage panisch zu ihrer Pressesprecherin herübersah und darauf wartete, dass die ihr mit Argumenten half und sie moralisch wieder aufrichtete
9 Zweimal meinte Merkel, der Politroboter, sogar, sie werde das Gespräch abbrechen, wenn du so weitermachst
10 Du hast so weitergemacht, du hast sie immer wieder gefragt, was ihre politische Vision sei, und sie hat dich, immer wieder ausweichend, trotzdem nicht rausgeschmissen, sicherheitshalber
11 Gnade uns Gott, hast du hinterher gedacht, wenn diese Frau eines Tages Kanzlerin wird, diese Mischung aus Machtsucht, Unsouveränität und Meinungslosigkeit ist gut für einen Posten im ZK der Tadschikischen Sozialistischen Republik, aber nicht, wenn man eines der größten, mächtigsten, labilsten Länder der Welt führen will
12 Und genau das tut sie jetzt, und alle finden sie großartig
13 Fantastisch, sagen die Politiker, wie sie mit ruhiger Hand Konflikte löst, indem sie gar nichts tut
14 Genial, sagen die Journalisten, wie sie mit der Geduld eines chinesischen Kriegsherrn ihre Gegner von selbst in die Falle laufen und den Verlierertod sterben läßt
15 Beeindruckend, sagen die Philosophen und Intellektuellen, wie wenig Gefühl diese ehemalige Naturwissenschaftlerin zeigt, das ist bestimmt Ausdruck ihrer Sachlichkeit
16 Wow, sagen die Linken, wie sie Bush, Putin und den Feinden des Dalai Lama die Wahrheit ins Gesicht haucht
17 Clever, sagen die Manager, wie sie vorher und hinterher mit denselben Männern Verabredungen trifft, die Deutschlands Lage auf dem Weltmarkt festigen
18 Sexy, sagen die Schwulen, ihre neue Frisur
19 Moment mal, sagst du, ist das wirklich dieselbe Frau, die du damals interviewt hast?
20 Aber natürlich!
21 Inzwischen geht es ihr allerdings nicht mehr darum, an die Macht zu kommen, sondern sie nicht zu verlieren
22 Und darum und nur darum gibt sie, unsicher und kalt wie immer, ständig allen recht - sicherheitshalber
23 So weiß sie zum Beispiel, wie man sich in Yad Vashem verbeugt, aber sie weiß auch, dass die deutschen Vertriebenen unbedingt eine Gedenkstätte brauchen, die mindestens so groß sein sollte wie das Holocaustmahnmal in Berlin, aber sie weiß auch, dass sie in diesem Zusammenhang - sicherheitshalber - sagen muss: "Wir verwechseln nicht Ursache und Wirkung, wenn wir der Vertreibung gedenken."
24 Und wer ihr vorwirft, sie sei Opportunistin und regiere Deutschland linker als vor ihr Gerhard Schröder, der Sozialdemokrat, dem entgegnet sie, für ihre Verhältnisse viel zu emotional, sie werde doch nicht gegen eine "strukturelle, linke Mehrheit im Land" anzicken und riskieren, gleich wieder die Macht zu verlieren
25 Applaus aus den Reihen der CDU/CSU
26 Wird Merkel, der Politroboter, aber auch wissen, wann der richtige Zeitpunkt gekommen ist, die Macht aufzugeben?
27 Wenn nicht sie, dann bestimmt ihre Pressesprecherin
28 Und was passiert, wenn es vorher plötzlich eine überraschende strukturelle rechte oder linksextreme oder rechtsnationale oder nationalsoziale oder bolschewistisch-antisemitische oder weiß der Teufel was für eine eklige Mehrheit in Deutschland gibt?
29 Dann wird Angela Merkel, das ehemalige FDJ-Mädchen, auch wieder ganz schnell wissen, wie sie auf Linie kommt
30 Und dann gnade uns wirklich Gott
Maxim Biller, Schriftsteller ("Esra", "Liebe Heute"), wird an dieser Stelle künftig bei Bedarf "30 Gründe" finden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland