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Archiv-Artikel

Matusseks Mondfahrt

So viel Nackte! So viel Blut! Und so wenig Dichterworte! Der „Spiegel“ spielt Kulturkampf – und hat Heimweh nach dem ganz alten Theater

Kurz nachdem Matthias Matussek Kulturchef beim Spiegel geworden war, zog es ihn an die vorderste Front, dorthin, wo Kultur noch wehtut. Matussek ging ins Theater. Davon hat er sich offenbar bis heute nicht erholt. Denn im Theater sah Matussek abenteuerliche Dinge. Schauspieler, die frei mit ihren Rollen umgehen! Regisseure, die mit Theaterstücken machen, was sie wollen! Hässliche Menschen, die hässliche Dinge tun!

Matussek war selbst eine Zeit lang Theaterkritiker, in der Blüte seiner Jugend, beim Berliner Stadtmagazin tip. Das ist ein ehrenwerter Job, ich weiß, wovon ich rede, schließlich mache ich ihn selbst seit ein paar Jahren. Der Theaterbesuch, seine erste Amtshandlung als neuer Großfunktionär des Feuilletons, muss ein herbes Dejá-vù-Erlebnis für Matussek gewesen sein: Nicht nur er hatte sich in all den Jahren verändert und war ein wenig in die Breite gegangen, auch das deutsche Theater war nicht wiederzuerkennen. Plötzlich sah es aus wie dieses seltsame Land, in das Matussek nach Auslandskorrespondenten-Jahren in Brasilien und London zurückgekehrt war: Deutschland. Irgendwie hässlich. Irgendwie schlechtgelaunt. Irgendwie Krise.

Kann Theater nicht einfach so lustig, bunt und verlogen sein wie ein Musicalabend am Londoner West End? Oder wie ein Matussek-Leitartikel, an dem außer den Pointen nichts stimmt? Nicht mit mir, murmelte Matussek. Wenn die Deutschen unbedingt depressiv sein wollten, bitte. Matussek beschloss nicht, Politiker zu werden, er beschloss, ein Buch zu schreiben. Darüber, was für ein tolles Land Deutschland ist. Davon würden sich die depressiven Deutschen nie erholen. Es ist für Mai angekündigt.

Dafür, das moderne Theater zu zerpflücken, engagierte er sich einen Popautor, der – großer Vorzug – von Theater nicht die geringste Ahnung hat und darauf auch noch stolz ist. Das passt prima in die entschlossene Boulevardisierungsstrategie, die der neue Chef dem Spiegel-Kulturteil verordnet hat. Hübscher redaktionsinterner Nebeneffekt: Matussek konnte seinen Vorgänger Wolfgang Höbel, bekennenden Poptheater-Gourmet, ein bisschen mobben.

Joachim Lottmann, der zum Verriss bestellte Pop-Wau-Wau, machte, was Pop-Wau-Waus so machen: Er tat, als würde er recherchieren, sah sich ein paar Theateraufführungen an und kam – Überraschung! – zu dem Ergebnis, das vorher längst schon feststand: Es steht schlimm ums deutsche Theater! Ganz schlimm! So viele Nackte! So viel Blut! So wenig Dichterworte! Einem armen Theaterkritiker wurde von einem enthemmten Schauspieler sogar der Spiralblock entrissen! Was für eine böse Welt! Und vor allem: Was für eine komplizierte Welt, mit Assoziationen, gesampelten Texten, Krisenbewusstsein und Politik.

Gerade weil Lottmann im aktuellen Spiegel seiner Ahnungslosigkeit so schön ungefiltert freien Lauf lässt, ist sein Text ein wunderbares Dokument. Aus ihm spricht eine große Sehnsucht. Die Sehnsucht danach, dass es im Theater wieder kuschelig, poetisch und übersichtlich und ein bisschen feierlich zugeht wie in den schönen Kindertagen des Weihnachtsmärchens. Diese kulturelle Regression ist nur logisch bei einem Magazin, das sonst einen Reformkurs propagiert, der gar nicht brutal und rücksichtslos genug sein kann. So wird Kultur zur Kompensation lebensweltlicher Härten – womit wir bei einem Kulturbegriff aus den Fünfzigerjahren angekommen wären.

Wie die intelligente Vernichtung des Poptheaters richtig geht, kann man übrigens woanders beobachten. Im Theater: in Frank Castorfs bösartig-eitler Selbstdemontage „Dickicht“ an der Berliner Volksbühne.

PETER LAUDENBACH