: Maßvolle Mathematik am lebenden Körper
Sie leben vom Makel eines jeden Menschen: Maßschneider lassen Bauchansätze geschickt verschwinden. Victor Ankobea ist einer von ihnen. Er kleidet vor allem Damen ein – und ärgert sich, wenn die sich in zu enge Hosen quetschen. Ein Porträt aus Anlass des Weltkongresses der Maßschneider
von TANIA GREINER
Flaches Gesäß, kleine Wampe oder breites Becken; die Hose spannt am Hintern, der Rock rutscht hinten hoch, die Jackett-Ärmel sind immer zu kurz. So wird der Kleiderkauf für viele zum Frust. Was für manche der gehasste Makel ist, ist für Maßschneider Berufsalltag. „Passformfehler“ nennt sie Victor Ankobea. Er betreibt im Wedding ein kleines Schneidereigeschäft. Diese Fehler gehören zu seinem Arbeitsalltag wie Nadel und Faden.
Sein Laden, den Ankobea im September vergangenen Jahres aufgemacht hat, liegt in der Lüderitzstraße, einer belebte Straße mit vielen kleinen Geschäften. Das ist gut für den gebürtigen Ghanaer. Denn häufig schlendern Leute vorbei und werfen einen Blick in das kleine Schaufenster, in dem ein schlichter Modellkörper auf einem Holzfuß steht, bekleidet mit einem klassischen Trägeroberteil aus schwarzem Leinen. Wer angelockt von dem klassisch-schlichten Ambiente den hohen Ladenraum betritt, befindet sich schon mitten in der Schneiderwerkstatt. In einer Ecke lehnen Papierrollen, auf einer Holzplatte auf Böcken sind Schnittvorlagen ausgebreitet, an einem Ständer hängen fertige Röcke, Hosen und Blusen für ihre zukünftigen Trägerinnen bereit. Trotzdem wirkt der Raum aufgeräumt, geradezu leer.
„Männer kommen selten“, sagt der Couturier. Wenn aber doch ein „Herr“ kommt, erfüllt der 50-Jährige vom Frack bis zur klassischen Anzughose den passgerechten Modewunsch. Das passiert im Hinterzimmer, wo verschiedene Nähmaschinenmodelle stehen. Die Preise sind moderat: Etwa 60 Euro nimmt der Leibschneider für die Fertigung einer Hose ohne Futter im klassischen Marlene-Dietrich-Schnitt – ohne Stoff. Ein geringes Einkommen für die erforderlichen zwei Arbeitstage. Derzeit hat Ankobea gut zehn Stammkunden. Zusammen mit der Laufkundschaft reiche das gerade so zum Leben, sagt er. Bei aufwändigeren Arbeiten wird’s selbstverständlich teurer.
Reiz seines Berufs ist, für die physischen Besonderheiten der Kunden Lösungen zu finden, damit die nicht mehr auffallen: Kleine Bäuchlein verschwinden durch gezielt platzierte Abnäher am Hosenbund. Röcke, die hinten hochrutschen, weil das Gesäß etwas ausgeprägter ist, macht Ankobea ungesehen. Ob kleiner Buckel, starke Hüften oder Wespentaille – der Stoff muss sich fließend dem Körper anpassen. So lautet das Berufscredo des Maßschneiderhandwerks.
Wenn Victor Ankobea durch die Stadt läuft, wundert er sich, wie selten Kleidungsstücke zu Körpern passen – man merkt den Blick des Profis. „Manchmal frage ich mich, wer solche Kleider näht.“ Oft sei die Schnittqualität schlecht. Ins Auge sticht ihm auch, wenn Leute sich die eigene Figur „versauen“. Da denkt Ankobea zum Beispiel an die aktuelle Mode der Hüfthosen. „Manche Mädchen quetschen sich in viel zu enge Hosen“, sagt er und schüttelt den Kopf. Wenn eine Kundin eine solche Passform wünscht, weigert sich der Weddinger zunächst und versucht zu überzeugen. Aber das gelingt nicht immer. „Es kommt häufiger vor, dass Frauen offensichtlich die Kleidergröße 40 füllen, aber behaupten, Größe 38 zu haben.“ Beharre die Kundin auf ihrem Wunsch, dann legt Kleiderspezialist Ankobea wohl oder übel sein Berufsethos beiseite. Das Begehren der Auftraggeberin hätte Vorrang – selbstverständlich.
Victor Ankobea hat sein Handwerk professionell gelernt. Gleich nach seinem Schulabschluss arbeitete Victor Ankobea in einen Schneiderbetrieb in Ghana. Nach eineinhalb Jahren Lehrzeit zog der damals 18-Jährige zu einem Onkel in Hamburg. Er kam viel herum, lernte Schnitttechnik und den Bau von Schneidermodellen in Hamburg und Berlin, unter anderem bei M. Müller & Sohn, einer in der Branche bekannten privaten Fachschule für Mode und Schnitttechnik. Neben der praktischen Schneiderei in verschiedenen Betrieben arbeitete er sieben Jahre lang in der Herrenabteilung des KaDeWe.
Obwohl es mittlerweile so genannte Cut-Programme gibt – eine PC-Software, die beim Berechnen des passenden Schnitts hilft –, macht Ankobea die Sachen lieber von Hand. „Da kann ich viel genauer arbeiten und sicher sein, dass alles passt.“ So werden bei ihm immer zunächst die Körpermaße genommen: Körperhöhe, Brust-, Taillen- und Hüftumfang sowie Ärmellänge. Die Hilfsmaße errechnet sich der Maßschneider dann selbst. Formel und Standardwerte für Körperproportionen helfen dabei. „Schneidern hat viel mit Mathematik zu tun“, erläutert Ankobea. Aus dem Schnitt entsteht ein Probekleid aus Nesselstoff, das der Kunde anprobiert. Wo zu viel Luft ist, wird enger gesteckt. Wo’s spannt, wird Stoff zugegeben werden.
Wer sich in die Hände von Ankobea begibt, muss Geduld mitbringen. „Manche Männer haben dafür nicht die Zeit“, weiß Beate Lecloux. Seit 2003 ist sie Geschäftsführerin von „Cut for you“. Es ist das einzige Geschäft in Berlin, das sich auf Maßkonfektion mittels 3D-Scans spezialisiert hat. Ihr Konzept richtet sich nach dem Kaufverhalten des klassischen Business-Manns: wenig Zeit, keine Lust, sich durch Modeabteilungen zu suchen, aber dennoch Bedarf nach einem Anzug, der die individuellen Bedürfnisse erfüllt. Über 3.000 Tucharten, 55 verschiedene Taschenformen, neun Hemdkragentypen und noch mehr stehen zur Auswahl. Darunter auch der „Autofahrerhosenbund“ – bei längeren Autofahrten kann dieser bis zu zwölf Zentimeter geweitet werden. Sind Stoff und Ausstattung ausgewählt, stellt sich der Kunde in die „Infrarot-Kabine“. Innerhalb von dreißig Sekunden liegt mittels Infrarotstrahlen ein lückenloses dreidimensionales Körperbild vor. Die Daten werden direkt in einen Computer eingespeist. Der erstellt den Schnitt, angepasst an Fadenlauf und Stoffmuster.
Genäht wird der maschinell zugeschnittene Stoff im niedersächsischen Goßlar. Die Bekleidungswerke Odermark beschäftigen dort 300 Nährerinnen. Entwickelt wurde der 3D-Bodyscanner sowie die dazugehörige Software von der Düsseldorfer Firma Human Solutions. Im Rahmen eines EU-Forschungsprojektes stellte das Unternehmen im Jahr 2000 den weltweit ersten 3D-Körperscanner für die Bekleidungsindustrie vor. Ziel des Projektes war es, den Einzelhandel der Textilindustrie gegenüber der Massenkonfektion zu stärken. Schon vier Wochen nach Auftragserteilung kann der Kunde ins neue Gewand schlüpfen.
Victor Ankobea kann da nur schwer mithalten. Schritt für Schritt entsteht in seiner Nähwerkstatt das individuelle Kleidungsstück. Was bei „Cut for you“ hinter den Kulissen passiert, kann der Kunde beim Maßschneider hautnah mitverfolgen. Wenn beim Kunden ein „Passformfehler“ vorliegt, fühlt sich Ankobea erst richtig herausgefordert: Denn dann sind Augen und Fantasie gefragt.