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Martin Krauss Linker HakenImmer nur ums Überleben boxen

Warum nicht? So könnte die Reaktion lauten, wenn man liest, dass nach dem 8. Mai 1945 in den DP-Camps, also den Lagern, in denen viele displaced persons (abgekürzt: DPs) in Deutschland lebten, neben Fußball Boxen der beliebteste Sport war.

Im Dezember 1946 fand in München ein bemerkenswertes Ereignis statt. 10.000 Menschen fanden sich im Kronebau ein, damals ein provisorisches Holzgebilde, um drei Tage ein Boxturnier anzuschauen. 120 jüdische Boxer aus allen Besatzungszonen kämpften hier.

Auch Hertzko Haft aus dem polnischen Bełchatów kam nach München. Mit 15 Jahren hatten ihn die Nazis ins KZ geworfen: zunächst in ein Arbeitslager, dann nach Auschwitz. Er musste einem SS-Offizier namens Schneider dienen, und weil der sich über seinen Leib­eigenen amüsieren wollte, meldete er Haft zum Schauboxen vor den Wachmannschaften an, obwohl der noch nie geboxt hatte.

In Hafts Erinnerungen, die sein Sohn für ihn aufschrieb, ist der Moment seines ersten Kampfes beschrieben: „Der erste Gegner wurde in den Ring geführt. Hertzko war schockiert, als er ihn sah. Vor ihm stand ein halbtoter, bis auf die Knochen abgemagerter Mensch. (…) Er erkannte sofort, dass dieser Mann sich nicht freiwillig gemeldet hatte. Hertzko erinnerte sich an Schneiders Worte, dass der Kampf erst dann zu Ende sei, wenn einer der Boxer nicht weiterkämpfen könne. Jetzt verstand er, was das bedeutete.“

Durch Boxen konnte Hertzko Haft Auschwitz und andere Lager überleben. Als die SS ihn und seine Mithäftlinge auf einen Todesmarsch schickte, konnte er flüchten. Die Brutalität ging weiter. Aus Angst, verraten zu werden, erschoss er auf der Flucht eine Frau. Als er endlich unter dem Schutz der US-Army stand, brachten GIs ihn dazu, ein illegales Bordell einzurichten – bis die US-Behörden es schlossen. Auch der Schmuggel von Zigaretten war lukrativ, flog aber bald auf. Haft hörte von dem jüdischen Boxturnier in München. Er meldete sich an und trainierte. Und er gewann im Schwergewicht. K. o. in der ersten Runde. Nicht nur den Titel als Schwergewichtsmeister erhielt er, sondern auch eine bronzene Apollo-Statue für den besten Boxer des Turniers.

1945 lebten in Deutschland etwa sieben Millionen DPs: geflohene Menschen, entlassene Kriegsgefangene, Vertriebene, Ex-Zwangsarbeiter, Menschen, KZ-Überlebende. Juden und Jüdinnen waren die kleinste Gruppe. Zunächst waren es etwa 25.000, die Zahl wuchs auf etwa 200.000 an. Schon im November 1945 wollte eine Gruppe einen jüdischen Sportclub Makkabi gründen. „Wir haben noch immer die Schrecken des Hungers, der Qualen, des Todes und der Krematorien vor Augen“, heißt es in dem Aufruf. Daher wollten sie „durch Sport die Seele zu neuer physischer und moralischer Kraft entwickeln“. Die jüdischen Menschen in den DP-Camps waren vergleichsweise jung. Nur zwei Prozent war älter als 60 Jahre.

Im DP-Camp Zeilsheim in Frankfurt am Main fand im Juli 1946 die erste Boxmeisterschaft statt, zu der vier jüdische Klubs gemeldet hatten. Ein halbes Jahr später dann kam es in München zum großen Turnier. „Wir, der Rest des europäischen Judentums, wollen aktiv an der Gründung der jüdischen Selbstständigkeit mitarbeiten“, hatte es im Makkabi-Aufruf geheißen.

Doch Hertzko Haft hatte anderes im Sinn. Er wollte nach Amerika. Und weil er gezwungenermaßen boxen gelernt hatte, wurde er dort Profiboxer. Zum Überleben, wie immer in seinem Leben. Aber auch weil er hoffte, dass er so seine Jugendliebe Leah, von der ihn die Nazis getrennt hatten, seinen Namen läse. (Er fand sie später tatsächlich, aber die beiden kamen nicht zusammen.) Er nannte sich Harry Haft, phonetisch noch nah genug an Hertzko und doch für das US-Profiboxen leichter zu vermarkten. Haft gewann elfmal hintereinander, meist durch K. o., doch irgendwann setzten Niederlagen ein. Im Juli 1949 trat er gegen. Rocky Marciano an. Der spätere Weltmeister wurde damals schon von der Mafia geführt. Haft verlor, es war sein allerletzter Boxkampf. Danach musste er sich anders durchs Leben schlagen, er starb 2007.

Was denn sonst! So lautet vermutlich die etwas treffendere Reaktion, wenn man hört, warum Boxen bei jüdischen DPs so populär war.

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