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■ Manfred Güllner, Chef des Meinungsforschungsinstituts Forsa, über Nichtwähler, Rep-Wähler und falsche DeutungenZwischen Idiotie und Sadismus

taz: Herr Güllner, nach der hessischen Kommunalwahl wurde allerorten über die zunehmende Wahlmüdigkeit geklagt. Gibt es Anzeichen dafür, daß die Wahlbeteiligung weiter drastisch sinkt?

Manfred Güllner: Im Prinzip kann man sagen, daß die Zahl der Nichtwähler steigt. Allerdings bietet gerade die hessische Kommunalwahl keinen Beleg für einen neuen Trend. Wenn man etwa die 30Prozent Nichtwähler in Frankfurt mit dem Nichtwähleranteil bei den früheren Kommunalwahlen außerhalb Hessens vergleicht, dann sieht man, daß Hessen noch relativ gut dasteht. Schon bei der nordrhein-westfälischen Kommunalwahl 1984 sind in Essen und Düsseldorf 39Prozent nicht zur Wahl gegangen. In Dortmund lag die Quote bei 38Prozent, in Köln bei 42Prozent. Auch bei der Kommunalwahl 1984 in Stuttgart blieben über 45Prozent der Wahlberechtigten zu Hause. Das Problem ist, daß sowohl die politischen wie auch die journalistischen Interpreten der hessischen Wahlergebnisse auf Modetorheiten hereingefallen sind. Plötzlich werden Nichtwähler entdeckt, obwohl die Tatsache, daß Menschen Unmut über die Politik auch durch Wahlenthaltung ausdrücken, nun wirklich nichts Neues ist. Tatsächlich lag die Wahlbeteiligung in diesem Jahr in Hessen ja sogar höher als bei der Landtagswahl 1991. Die Alarmzeichen für den Bedeutungsverlust der Großparteien gab es doch seit langem, auch bei der Bundestagswahl 1987. Man hat sie nur nicht ernst genommen. Die „Stuyvesant-Sozialisten“, wie sie in Frankfurt genannt werden, die sich nicht mehr um die Sorgen der Unterprivilegierten kümmern, sondern im Rathaus irgendwelche Überbauprobleme diskutieren, die werden nicht mehr gewählt. Ein Teil der Wähler reagiert darauf mit Wahlenthaltung, ein Teil der unteren sozialen Schichten wählt aus Protest die Rechtsradikalen, obwohl sie mit deren Programmen oder Ideologien weiß Gott nichts zu tun haben.

Führt diese Interpretation nach dem rechten Terror der vergangenen Monate, nach Rostock und Mölln, nicht in die Irre? Wer jetzt noch die Rechtsradikalen wählt, der weiß doch, was er tut. Der will doch nicht nur gegen die Volksparteien protestieren, sondern gezielt den rechtsradikalen Ideologen zum Erfolg verhelfen.

Es gibt keine Hinweise dafür, daß sich die Motive der hessischen Wähler von den Motiven der Dortmunder Wähler, die wir schon 1989 nach der Europawahl ermittelt haben, unterscheiden. Die meisten Wähler der rechtsradikalen Parteien sind nicht ideologisch gebunden, sondern sie wählen aus Protest rechtsradikal und verabscheuen gleichzeitig die rechtsradikale Gewalt.

Hat sich nicht doch auf der rechtsradikalen Seite etwas verschoben? Die großen Wahlerfolge der NPD bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Bayern beruhten 1966 auf überdurchschnittlich vielen Stimmen unter den 50- bis 60jährigen. Bei der baden-württembergischen Landtagswahl 1992 schafften die Reps ihre 10,9Prozent vor allem wegen des Zuspruchs der jungen Leute. 18,8 Prozent der unter 25jährigen hat für die Rechtsradikalen votiert. Ist das nicht eine neue Qualität?

Bei dem Vergleich handelt es sich um zwei völlig verschiedene Wählertypen. Die NPD-Wähler Mitte der 60er Jahre waren, platt gesagt, alte Nazis. Heute haben wir dagegen keine relevanten Wählergruppen, die für rechtsextreme Ideologien anfällig sind. Das gilt auch für die von Ihnen genannten jungen Rep-Wähler, die überwiegend schlecht ausgebildet und arbeitslos sind oder aber in schlechten Arbeits- und Wohnverhältnissen leben. Das sind vor allem Männer, die von den Großparteien im Stich gelassen wurden. Was sollen die denn auch von Parteien halten, die im öffentlichen Dienst, der in ihren Augen ja sowieso schon privilegiert ist, mit wichtigtuerischem Gehabe Frauenbeauftrage einsetzen, aber für diejenigen, denen es in dieser Gesellschaft am beschissensten geht, nichts tun. Für die gibt es auch keinen Männerbeauftragten. Das sind aber keine Nazis.

Vielleicht keine Nazis, aber doch wohl Personen, die für rechte Ideologien und autoritäre Lösungen anfällig sind? Sie könnten sich ja auch nach linksaußen wenden oder zu den Grünen gehen.

Genau das ist der Punkt. Das können die eben nicht. Die sagen, die SPD vertritt unsere Interessen nicht mehr – und das stimmt. Sollen die Frau Wieczorek-Zeul und die Schickeria der Stuyvesant-Sozialisten wählen? Nein, das können die nicht. Die CDU kümmert sich auch nicht um diese Leute und die FDP, die Partei der leitenden Angestellten, schon gar nicht. Und die Grünen? Wenn sie die Grünen richtig positionieren, dann sind die doch die Partei der formal gut Ausgebildeten im öffentlichen Dienst ab A13. Dieser Gruppe stellen die Grünen ein Vokabular zur Verfügung, das es ihr erlaubt, Kritik an der Gesellschaft zu üben und gleichzeitig die Privilegien zu nutzen. Kaum ein Arbeiter kann heute noch die Grünen wählen. Die können nur noch zu Hause bleiben oder rechtsradikal wählen. Diejenigen, die sich klar waren, was es heißt, den Rechten die Stimme zu geben, sind deshalb auch der Wahl ferngeblieben. Die anderen, denen es in ihrer großen Mehrheit an der intellektuellen Fähigkeit mangelt, nachzuvollziehen, was sie mit solcher Stimmabgabe tun, die haben rechtsradikal gewählt, ohne rechtsradikal zu sein.

Mit ihrem rassistischen Weltbild und ihrer Ausländerfeindlichkeit halten die Rechtsradikalen von DVU bis zu den Reps doch nicht hinter dem Berg. Wollten die Rep-Wähler nicht zumindest auf diesem politischen Feld ein Signal setzen?

Bis zum heutigen Tage stellen wir bei dem rechtsradikalen Wählerpotential eindeutig fest, daß nationalistische Motive, Ausländerfeindlichkeit oder die Asylfrage nicht die entscheidende Rolle spielen. Diese Wähler wollen einen Denkzettel verteilen. Die großen Parteien können sie zurückholen, wenn sie sie ernst nehmen.

Auch ohne sich inhaltlich nach rechts zu verbiegen?

Natürlich. Die SPD darf sich nicht wenden und verbiegen. Es war ja auch ein fataler strategischer Fehler von Engholm, zu glauben, man müsse in der Asylrechtsfrage einen Schwenk machen. Die Probleme des Arbeits- und Wohnungsmarktes, die Verkehrspolitik, Fragen der Kriminalität und der Umgangston der großen Parteien untereinander, also fünf Bereiche, sind auch den Wählern der Rechtsradikalen wichtiger als die Asylfrage. Wenn die Parteien in vier der sechs Bereiche auf die Wähler zugehen würden, in der Asylfrage jedoch nicht, wäre das überhaupt kein Problem, denn niemand erwartet von einer Partei in allen problematischen Bereichen eine hundertprozentige Übereinstimmung.

Stimmte die Kommunalpolitik in Hessen in den meisten dieser Bereiche nicht?

Das hessische Wahlergebnis war vorwiegend ein Protest gegen die politischen Akteure vor Ort. Was ist denn passiert seit der Europawahl 1989? Hat sich denn irgendein Politiker der CDU oder SPD nach dem damaligen Erfolg der Reps anders verhalten? Wie haben die denn nach der Wahl jetzt in Hessen reagiert? Die haben die Entscheidung der Wähler doch gar nicht ernst genommen. Schauen Sie sich doch die Verkehrspolitik in Kassel an. Da haben Ideologen und Bürokraten agiert, die die Sorgen, Bedenken und Einwände von normalen Menschen vollständig ignoriert haben. Es ist ja nicht so, daß die Menschen eine neue Verkehrspolitik, die darauf abzielt, den Individualverkehr zugunsten des öffentlichen Nahverkehrs zurückzudrängen, ablehnen. Wir wissen doch aus unseren Befragungen, daß die große Mehrheit auch der Auto fahrenden Bevölkerung Tempo-30-Zonen, autofreie oder autoarme Innenstädte genauso mitträgt wie Geschwindigkeitsgrenzen auf Autobahnen. Nur: Was sie nicht akzeptieren, ist die konkrete Umsetzung, diese bürokratische Unfähigkeit, die sich in Einzelmaßnahmen statt Systemangeboten zeigt.

Kann es nicht auch sein, daß die Leute im Prinzip für eine autoarme Verkehrspolitik sind, sich aber dann beklagen, wenn es in ihrer unmittelbaren Nähe konkret wird? Nach dem Motto: „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht naß“?

Nein. Wie Sie jetzt argumentieren, so reagieren üblicherweise die Parteien. Die beschimpfen ja jetzt wieder die Wähler. Ich war kurz nach der Hessen-Wahl in einem Gremium einer Partei, und da haben die mich gefragt, sagen Sie mal, warum ist denn der Wähler so „komisch“ geworden? Die Parteien sollten sich lieber die Frage stellen, ob nicht sie selbst „komisch“ geworden sind. Die Wähler sind doch viel vernünftiger. Sie akzeptieren nicht nur neue Ziele, sie sind auch bereit, ihr Verhalten zu ändern. Um noch einmal auf Kassel zu kommen: Die haben die Stadt mit lauter roten Tonnen verschandelt und sonst nichts geboten. Man fragt sich doch, ist das Idiotie oder Sadismus, was die Bürokraten da machen. Interview: Walter Jakobs

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