MÜNCHNER TAGEBUCH: MIT FÜNF EURO PRO LITER GEGEN DEN STAU : Die Küsse von Claudia Roth
SONNTAG. Wahlparty im bayerischen Landtag. Claudia Roth stürmt auf mich zu, küsst mich, herzt mich. Ich herze zurück, die Umstehenden staunen über unser Glück. In ihren Augen blinken Fragezeichen. Waren die beiden zusammen auf der Wies’n? Verwechselt sie ihn mit einem anderen süddeutschen Pamphletisten? Alles nur Verschwörungstheorie. Die Frau ist so euphorisch, weil ihre Grünen sich stürmisch verbessert haben. „Ist das nicht fantastisch“, jubelt sie, „33 Prozent mehr. So gut waren wir noch nie. Das ist der Durchbruch in Bayern.“ „Ja schon“, sage ich gedämpft, „aber ich habe FDP gewählt.“ „Macht nichts“, strahlt sie, „wir haben unseren Zuwachs sowieso von der CSU geholt.“ Großartig. Positiv. Und so eine enthusiastische Frau will der Muffel Castro nicht ins Land lassen.
MONTAG. Stau ohne Hoffnung. Ich sitze in meinem Auto vor dem trostlosesten Verkehrsschild Deutschlands. „Hier wird’s eng“, steht drauf und „Juli 2003–Oktober 2009“. Eine Garantie für sechs Jahre Stau, links und rechts mürrische Gesichter von Menschen. Ich muss wieder an Claudia Roth denken. Sie könnte mich erlösen. Werde sie anrufen und den Grünen empfehlen, zu ihren signifikaten Grundsätzen zurückzukehren. Das war noch eine Vision, damals auf der Bundesdelegiertenversammlung in Mannheim. Ich weiß noch genau, wie damals die taz schrieb, der Benzinpreis müsse in „Richtung auf die Fünf-Mark-Schwelle“ ansteigen. Das war 1994. Heute ist der nicht mehr angemessen. Jetzt, neun Jahre später, können sie ruhig fünf Euro pro Liter verlangen. Dann würden diese vielen Staunachbarn endlich von der Straße verschwinden. Die vielen Minimalverdiener mit Autotick würden endlich gezwungen, den Individualverkehr der eiligen Elite zu überlassen. „Arme Leute in die Busse“ – den Slogan schenke ich Claudia Roth. Für die rasende Oberschicht kann man das ökologische Motiv auch positiv verpacken: Freie Fahrt für Vielverdiener. Wenn sie das durchzieht, die Claudia Roth, dann könnte ich zum Wechselwähler werden. Zumindest mit der Erststimme.
HELMUT MARKWORT
Chefredakteur des Nachrichtenmagazins Focus