MULTIPOLARE WELT: Uncle Sam: Greis mit scharfen Zähnen
Die Nato wird mit dem Zerfall des Realsozialismus sinnlos, und die USA blicken auf die übermächtige Konkurrenz in Fernost, während Europa für sie an geostrategischer Bedeutung verliert. Auch wenn sich Europa vorerst mit seinen Problemregionen im Osten beschäftigt, avanciert es über kurz oder lang zur Supermacht. In dieser Ära einer Multipolarität tritt das Dilemma der militärisch überrüsteten, aber wirtschaftlich maroden Weltpolizei USA zutage. ■ VON REINHARD KAISER
Einstweilen vorbei ist die Zeit, in der Europa aus US-Sicht den zentralen Brennpunkt der Aufmerksamkeit darstellte. Die Debatte über atlantische oder pazifische Orientierung amerikanischer Außenpolitik ist nicht vorbei, aber sie ist von den Tatsachen überholt. Der pazifische Handel ist längst viel bedeutender als der atlantische, ein Drittel der amerikanischen Staatsschulden wird von japanischem Kapital finanziert, der galoppierende japanische Immobilienkauf in den USA ist Tagesthema – eine gewisse Dreistigkeit gehört ja auch dazu, neben zahllosen anderen Objekten ausgerechnet das Rockefeller- Center in New York dem Yenimperium einzuverleiben. Nordostasien, also Japan, Südkorea, Taiwan, perspektivisch vielleicht China, ist die für die USA wichtigste Weltgegend, ungefähr gleichrangig mit dem Golf. Das Golföl ist dabei weniger für die Ölversorgung der USA selbst von Bedeutung – sein Anteil an den US-Ölimporten ist relativ gering –, sondern aus strategischen Gründen. Wer das Golföl kontrolliert, kontrolliert den Ölpreis und die Ölversorgung zahlreicher kleiner und großer Länder auf der Welt.
Europa kommt gegenwärtig – bestenfalls – ein dritter Rang zu. Der Wegfall der Blockkonfrontation entzieht der massiven Präsenz von US-Truppen die Notwendigkeit. Natürlich werden wegen der politischen Symbolik und als Infrastruktur für Operationen an anderen Orten Verbände und insbesondere Materialbestände der USA in Europa verbleiben, aber Europa ist gegenwärtig kein Brennpunkt von US-Interessen mehr. Parallel zum Nachlassen des Interesses verläuft ein tatsächlicher Machtverlust. Mit dem militärischen Führungsanspruch bei der Verteidigung des „freien Westens“ gegen die „sowjetische Gefahr“ sinkt auch die politische Führungsrolle auf dem Kontinent mangels Masse dahin. Das Rennen um die Durchdringung Osteuropas haben die USA zugunsten der Westeuropäer aufgegeben, ohne es erst richtig begonnen zu haben. Aus nominell Gleichberechtigten im Bündnis werden „partners in leadership“, eine schöne Formel für drastisch verminderten Einfluß der USA auf das europäische Geschehen.
Die Europäer- neue Rolle mit vorsichtigem Engagement
Die Westeuropäer gehen mit dieser Situation bisher durchaus geschickt um. Überaus herzliche politische Beziehungen mit den USA gehen einher mit zielstrebiger Arbeit zum Ausbau der eigenen Stellung. Kernstück ist dabei die innere Reorganisation der (West-)Europäischen Gemeinschaft. Seit den 50er Jahren bestanden in der westeuropäischen Politik durchgängig zwei Achsen: eine französisch-deutsche und eine niederländisch-britische. Die Niederländer waren immer für raschestmögliche Integration, aber nur unter Einschluß der Briten, um nicht zwischen den beiden großen Nachbarn erdrückt zu werden. Die Briten ihrerseits versuchen bislang, die Integration zu bremsen und ihre Stellung als bedeutender Nationalstaat durch privilegierte Sonderbeziehungen zu den USA zu stabilisieren.
Diese klassischen Rivalitäten und Allianzen sind in jüngster Zeit praktisch verschwunden, der europäische Integrationszug rollt. Die Bundesrepublik ihrerseits vermeidet es geradezu demonstrativ, ihr wirtschaftliches Übergewicht in der EG politisch zur Geltung zu bringen. Der Verzicht auf die Präsidentschaft der EG-Kommission zugunsten des Franzosen Delors war so gesehen ein geschickter Schachzug. Diese beschleunigte und gefestigte Integration geht zunächst einmal mit einer Wendung nach innen einher. Spaniens Wirtschaft zum Beispiel hat ihre Kapitalexporte nach Lateinamerika drastisch verringert – zugunsten von Investitionen in Portugal. Französisches Kapital zieht sich aus den frankophonen Ländern südlich der Sahara zurück. Die außenwirtschaftlichen Beziehungen werden insgesamt zwar weiterentwickelt, aber der Schwerpunkt liegt auf Stärkung der inneren Verflechtung. Die deutsche Konzentration auf die fünf neuen Bundesländer ist ein ausgeprägter Sonderfall für diese gegenwärtig wirksame Tendenz.
Die neuformierte EG samt Binnenmarkt und Währungskooperation greift also gerade nicht machtvoll in alle Welt hinaus, um sich dort als neue Supermacht zu betätigen – jedenfalls nicht in der nächsten Zeit. Vor einer solchen Entwicklung liegt noch eine längere Phase der Bewältigung innerer Aufgaben und brennender Erblasten. Am schwierigsten ist dabei der Umgang mit den Ländern Osteuropas, die nach Kapitalanlage ja lauthals rufen. Selbst diesen händeringenden Bitten an Westeuropas Kapitalisten, doch bitte die Ausbeutung der osteuropäischen Arbeitskräfte und Ressourcen in die Hand zu nehmen, wird „der Westen“ nur sehr zögerlich nachkommen können. In den vergangenen Monaten ist im Gegenteil der Kapitaltransfer aus den OECD-Ländern nach Osteuropa sogar drastisch zurückgegangen. Hier bahnen sich politische Instabilitäten in unmittelbarer Nachbarschaft an, die weltweite Abenteuer in noch weitere Fremde rücken.
Aber keine Entwarnung: Das heißt natürlich nicht, daß die Westeuropäer sich nicht an Dritte-Welt-Operationen der USA beteiligen oder ihre dort vorhandenen Einflußsphären vernachlässigen werden. Nur wird die Beteiligung in aller Regel vorsichtig, wenig mehr als symbolisch bleiben, der berühmte Fuß in der Tür, während die Initiative, die Verantwortung samt der Prügel für das angerichtete Unheil und der Löwenanteil der Kosten bei der US-Weltpolizei verbleiben. Eigene offensive, aggressiv ausgerichtete Weltpolitik der potentiellen Supermacht EG liegt noch in weiter Ferne.
Ein gesamteuropäisches Militärkonzept entsteht
Die Westeuropäer werden dieweil ihren Laden in Ordnung bringen, wirtschaftlich mit dem nächsten Schritt der Währungsunion, politisch mit einer wie auch immer gearteten Reform der Institutionen (es liegt im Wesen dieses besonders eigenwilligen Eurokratenmilieus, daß man hierzu noch am wenigsten Prognosen wagen kann) und einer langsamen, aber gründlichen Neuordnung in der Militärfrage.
Die militärische Integration in der Nato samt stündlicher Kriegsbereitschaft gen Osten hat sich historisch überholt. Der politische Rahmen der Nato mit seinem analytischen und konsultativen Apparat und seinen permanenten Botschafter- und regelmäßigen Ministertreffen kann durchaus mit wenig Veränderung noch lange Zeit den Rahmen für transatlantische Abstimmung und Konfliktkanalisierung bilden.
Der militärische Apparat hingegen hat mit dem russischen Feind seine bisherige Aufgabe verloren und damit den Seinsgrund für seine de facto supranationale Struktur unter amerikanischem Oberkommando. Diese Struktur wird aber europäischerseits kaum direkt in Frage gestellt werden. Dies wäre ein unfreundlicher Akt gegen die USA, eine nicht zwingend gebotene Konfrontation. Auch der Gedanke, eine Art europäische Parallelstruktur zur Nato in der WEU zu finden, scheint sich totzulaufen.
Wahrscheinlicher ist heute eine langsame Übernahme militärischer Aufgaben durch die reformierte EG und ein Zusammenwachsen der Streitkräfte auf dieser Ebene. Mögliche Zwischenschritte könnten multinationale Truppenteile nach dem Vorbild der deutsch-französischen Brigade sein. Diese schließlich integrierten Streitkräfte der EG würden zu gegebener Zeit dann auch die Atomarsenale Frankreichs und Englands umfassen (wobei das Bewußtsein dafür vielleicht in Frankreich schon weiter entwickelt ist als in England). Am Ende stünde praktisch eine Nato mit nur noch drei nationalen Kontingenten – einem der USA, einem kanadischen und einem europäischen.
Parallel, zum Teil auch schon vor einer solchen „Stärkung des europäischen Pfeilers“ der Nato, wird die Neubestimmung ihrer Aufgaben stattfinden. Da bleibt sicher ein Abschreckungsargument gegen die Sowjetunion bzw. ihre Zerfallsprodukte im Rennen, schon wegen des tiefen US-Respekts vor den sowjetischen strategischen Atomstreitkräften. Im Ernst kommen die bewaffnete Ordnungsstiftung in Osteuropa und die Herstellung gemeinsamer Operationsfähigkeit in der Dritten Welt in Frage. Ein so orientierter Nato-Militärapparat würde die Europäer zu wenig verpflichten, ihnen aber im Falle zunehmender Außenorientierung ihrer Politik eine Zeitlang helfen, den bestehenden relativen Mangel an entsprechenden Streitkräften und Transport- und Waffensystemen durch Einbeziehung von US- Verbänden auszugleichen.
Was bedeuten diese europäischen Entwicklungen für die USA? Kurzfristig wenig. Die Lage der USA ist alles andere als rosig. Die US-Wirtschaft hat in vielen Bereichen ihre Weltmarktfähigkeit verloren. Die Zahlungsbilanz sieht traurig aus. Die USA sind das Land mit den weltweit höchsten Auslandsschulden, vor Klassikern wie Mexiko oder Brasilien. In keiner Region der Welt kann man mehr von einer echten US-Dominanz sprechen, selbst der Griff auf Lateinamerika mußte sich enorm lockern. Im Gegenteil verschieben sich vielerorten die Gewichte durch regionale Strukturbildung oder Aufkommen neuer wirtschaftlicher Mittelmächte. Größter Investor auf den Philippinen etwa sind nicht mehr die USA, sondern – Südkorea.
Nicht nur die Füße, der Koloß selbst ist aus Ton, allerdings mit stählernen Krallen. Zwar können die USA ihre Golfoperation schon nicht mehr selbst bezahlen, sondern müssen dafür bei arabischen Sultanen und den Japanern betteln gehen. Aber ihre immense militärische Macht ist ihr größter verbliebener Trumpf, fast konstant 270 Milliarden Dollar im Jahr wert. Diesen Trumpf versuchen sie ja auch immer mal wieder zu spielen, mit vielen Todesopfern und wenig substantiellem Erfolg. Aber er sichert ihnen mittelfristig noch eine weltweit dominierende Stellung – jedenfalls äußerlich.
Eine Umorientierung oder gar Selbstbeschränkung in der US- Militärpolitik zeichnet sich bemerkenswerterweise nicht ab. Der Kongreß hat just eben noch einmal den weiteren Ausbau des strategischen Atomwaffenarsenals (u.a. mehr MX, die neue Midgetman-Rakete, mehr strategische Stealth-Bomber B2) abgesegnet, obwohl der Russe eigentlich nicht mehr ist, was er früher war. Die Golfaktion bringt starke konventionelle Streitkräfte, insbesondere auch schwerbewaffnete Formationen in großer Stückzahl wieder in Mode, zusätzlich zu den nach Low- intensity-conflict-Konzepten gebotenen hochbeweglichen leichten Einheiten. Eine riesige Flotte und Stützpunkte in aller Welt werden auch weiterhin gebraucht usw. usf. „Was wollen wir? Wir wollen alles!“ Da ruht langfristig kein Segen drauf.
Der Dominanzanspruch der USA fällt nur unter Druck
Im kleinen wird es solche Konflikte natürlich vermehrt geben. Gerade weil Anspruch und Kraftaufwand der USA in gar keinem Verhältnis mehr zu ihrer ökonomischen Potenz stehen, werden sie in Zukunft vermehrt Forderungen nach Handelserleichterungen für ihre Wirtschaft in anderen Ländern mit Schutzmaßnahmen im eigenen Land verbinden und, im Kern, Geld fordern. Diese Konflikte werden häufiger und lautstärker werden, aber nie an die Substanz gehen. Solange die USA nicht die Kraft aufbringen, ihre Ressourcen aus dem Militärapparat in einen Dynamisierungsprozeß ihrer Wirtschaft umzuleiten, wird die Aushöhlung ihrer Stellung sich fortsetzen; die anderen können da leichthin kleinere Zugeständnisse beim Einzelproblem machen, jeweils mit großem Getöse natürlich, das gehört dazu.
Diplomatisch/politisch gesehen entwickelt sich auf diesem Hintergrund eine ausgeprägte Multipolarität der Weltpolitik. Nicht mehr die USA und die UdSSR, sondern eine Vielzahl von Staaten und Staatengruppen gewinnen genug Bedeutung, um auf der internationalen Bühne eine aktive Rolle zu spielen, in sehr unterschiedlicher Verkleidung und mit wechselndem Text. Das konfliktbegleitete freundliche Miteinander der alten und neuen Großen dürfte dabei manches Mal durch Störenfriede aus dem Kreis der Habenichtse unterbrochen werden. Für diese Ländergruppe ist die neue Weltordnung nämlich offenbar kein Stück besser als die bisherige, vorsichtig gesagt.
Langfristig sehen die Dinge dramatischer aus. Die strukturellen Probleme der Weltwirtschaft und der Weltökologie werden in keiner Weise gelöst – dafür fehlt jeder Anhaltspunkt – und dürften in Form unvorhersehbarer Eruptionen in das Geschehen einwirken. Die Stärkung von EG und ostasiatischen Industrieländern einerseits, die Erosion der US-Stellung andererseits führt obendrein irgendwann ins Ungleichgewicht. Es erscheint schwer vorstellbar, daß die USA ihren Dominanzanspruch freiwillig aufgeben werden, wenn die Zeit dazu gekommen ist, und ebenso undenkbar, daß die aufgestiegenen neuen Mächte ihn auf Dauer akzeptieren. Dann werden die Karten neu gemischt. Der Begriff „Supermacht Westeuropa“ wird sich dann sehr schnell mit Realität füllen. Und somit säßen zur Abwechslung nicht unsere amerikanischen FreundInnen, sondern wir selbst „im Magen der Bestie“.
Reinhard Kaiser ist Mitglied des Instituts für internationale Politik in Wuppertal
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