MULTIPOLARE WELT: Der "Vater des Neuen Denkens"
■ Alexander Jakowlew, porträtiert VON BARBARA KERNECK
Alexander Nikolajewitsch Jakowlew ist Mitglied des sowjetischen Präsidialrats und einer von Gorbatschows engsten Beratern. International ein Begriff geworden ist der Siebenundsechzigjährige als „Vater des neuen Denkens“, der Mitte der achtziger Jahre das starre außenpolitische Feindbild des Kremls aufbrach. Dabei schien seine politische Karriere bereits 1973 zu Ende, als er aus dem Politbüro entfernt und als Botschafter der Sowjetunion nach Kanada „verbannt“ wurde. Daß Michail Gorbatschow dieses Exil 1983 beendete, ist die biographische Grundlage für Jakowlews Treue gegenüber dem Präsidenten.
Alexander Jakowlew (nicht zu verwechseln mit Igor Jakowlew, dem prominenten Chefredakteur der 'Moscow News', von dem der Beitrag Gorbatschows Opposition: Die KPdSU in dieser Ausgabe stammt) hat den Stalinismus intensiver durchlebt als der acht Jahre jüngere Gorbatschow: „Gerade die Erinnerung an die Grenzenlosigkeit meines damaligen Glaubens erzeugt heute in mir das bittere Gefühl, betrogen worden zu sein.“ Daß er in der Nach-Stalinzeit eine Bekehrung durchgemacht habe, bestreitet Jakowlew; nur immer erfahrener sei er geworden. Schon früh habe er sich eher vom eigenen Charakter leiten lassen, als von ideologischen Schablonen: „Mein ganzes Leben lang haben mir die Erniedrigten und Beleidigten leid getan.“ Hier bezieht sich Jakowlew vor allem auf seine Tätigkeit als Journalist und Parteiarbeiter in Mittelrußland ab 1946 und die Arbeit im ZK-Apparat zwischen 1960 und 1972. Unterbrochen wurde diese Karriere immer wieder durch Phasen des Studiums. 1957 war Jakowlew einer der ersten sowjetischen Austauschwissenschaftler, denen ein einjähriger Aufenthalt an der New Yorker Columbia-University gestattet wurde, 1967 promovierte er als Historiker.
Das Streben nach Wissen hat den Jungen aus bitterarmen bäuerlichen Verhältnissen mit den von Geburt an schwachen Augen sein Leben lang geleitet: „Mutter war überzeugt, daß ich durch das viele Lernen entweder verblöden oder erblinden müßte.“ Die Mutter selbst konnte weder lesen noch schreiben, der Vater hatte vier Jahre lang eine Katechismusschule besucht, und der Sohn bewahrt noch heute dessen Bibel auf. Die achtzehnjährige Leseratte Alexander wurde sofort zu Beginn des Krieges, 1941, zur Marineinfanterie eingezogen. Auch der Vater mußte an die Front, der Mutter und drei kleinen Schwestern blieb nur eine Kuh als Ernährerin. Der Fronteinsatz Jakowlews endete 1943 mit einer schweren Verwundung beider Beine, in deren Folge er heute noch hinkt.
Den zweiten Rückschlag in seinem Leben, die „Verbannung“ als sowjetischer Botschafter nach Kanada, empfindet er noch heute als bitter. Unter anderem hielt man ihm damals sein frühes Eintreten für die ökologischen Probleme des Baikal-Sees vor. Auch „Feindseligkeit gegenüber dem russischen Volk“ wurde dem überzeugten Internationalisten damals – wie heute wieder – von Rechtsnationalen in der Partei vorgeworfen.
Nach der Rückkehr aus Kanada, wo sein geradezu britischer Sinn für „fair play“ und für die Rechte des Andersdenkenden gewiss geschärft wurde, war er zwei Jahre lang Direktor des Instituts für Weltwirtschaft. Doch noch einmal führte ihn das Spiel der Macht in das Sekretariat des Zentralkomitees. Als auf dem 28. Parteitag im vergangenen Sommer Jakowlews Entfremdung von der KPdSU-Spitze zutage trat, verzichtete er auf seine ZK- Mitgliedschaft. Als „Sklave seiner Zeit“, wie er sich einmal nannte, schuftet er nun weiterhin täglich bis tief in die Nacht für den Präsidialrat. Dabei würde er viel lieber nur noch schreiben. „Interessant ist Politik“, meint Jakowlew ein wenig herablassend, „eigentlich nur in Umbruchzeiten.“ An letzteren – so ist zu erwarten – wird es Alexander Nikolajewitsch vorerst nicht fehlen.
Barbara Kerneck ist Korrespondentin der taz in Moskau
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