MUFFIG UNTERM MERCEDES-STERN : Wäre der Kapitalismus wie das Europa-Center, er hätte niemals gesiegt
VON ESTHER SLEVOGT
Es ist schon anders, im Puro zu feiern“, sagt Elena Stolle. „Andere Clubs sind dunkel. Hier schaut man von oben auf die Stadt und die Lichter der Kurfürstendamms.“ Die Puro-Sky-Lounge, von der die junge Frau mit den langen blonden Haaren spricht, befindet sich im zwanzigsten Stock des Europa-Centers, und die dreiundzwanzigjährige BWL-Studentin mag den Club, seit er 2008 eröffnet wurde. Ein wagemutiges Unternehmen. Denn die Gegend um den Kurfürstendamm ist nicht gerade ein Epizentrum des Nachtlebens in dieser Stadt. Nach Geschäftsschluss wird es hier ziemlich ruhig. Die Menschenströme fließen ab Richtung Osten. Und doch: Vergleichbares gibt es für Elena Stolle eigentlich nur mit dem „Weekend“ am Alexanderplatz. Doch da hat man den spektakulären Blick auf die Lichter der Stadt nur von der Terrasse aus. Hier, im Puro, von drinnen und rundherum.
Musik aus den 80ern
Am liebsten kommt sie Donnerstags, wenn die Party „I love you, but I’ve chosen disco“ steigt. Es gibt Musik aus den 80ern, Chart-Hits zum Mitsingen. Morgens um drei wird dann immer die Hymne „Ein Kompliment“ von den Sportfreunden Stiller gespielt: „Ich wollte dir nur mal eben sagen, dass du das Größte für mich bist. Und sicher geh’n, ob du denn dasselbe für mich fühlst“, und alle singen ausgelassen mit. Der Altersdurchschnitt liegt etwa bei zwanzig Jahren, der Spaßfaktor deutlich drüber. Für das Gebäude gilt ansonsten: besser nicht hingucken. Augen zu, rein in den Fahrstuhl und erst im Puro die Augen wieder aufmachen. Denn das Europa-Center ist hässlich, findet die junge Frau. Nichts, wo man hingehen würde, gäbe es das Puro nicht. Ramsch, Touristennepp, schlechte Gastronomie. Das war eigentlich schon immer so, seit man sich an diesen Bau erinnert, der 1965 eröffnet wurde. Damals Berlins höchstes Gebäude und Europas erste Shopping-Mall, der angebliche Stolz Westberlins. Doch schon für all jene, die eine Generation vor Elena Stolle im Schatten des Mercedes-Sterns aufwuchsen, der auf dem Dach rotiert, ging immer etwas Muffiges vom Europa-Center aus.
Ajax zum Beispiel
Für den Ostberliner Dichter Heiner Müller wurde es in seinem Gedicht „Ajax zum Beispiel“ trotzdem zum Inbegriff für den mörderischen und dämonischen Kapitalismus. So mythisch besetzt, so drohend und böse, wie Müller den unaufhörlich kreisenden, kaltweiß über der West-City leuchtenden Mercedes-Stern beschrieb, hatte man ihn als Westkind niemals finden können. Eher piefig, peinlich und spießig. Wäre der Kapitalismus wie das Europa-Center, hätte er niemals gesiegt, würde man mit Müller gerne noch sagen – der „Ajax zum Beispiel“ 1993 übrigens im Hotel Kempinski am Ku’damm schrieb.
All das ist lange her. Heiner Müller ist tot. Die Spielbank, die sich im Europa-Center befand, ist auch längst zum Potsdamer Platz gezogen. „Am Kurfürstendamm gibt es kein richtiges Leben mehr“, sagt sogar Elena Stolle. „Man kann shoppen und Kaffee trinken. Sonst nichts.“ Nur das Puro im zwanzigsten Stock des Europa-Centers lebt. Und zwar ziemlich heftig.