MORGENS IN DER U-BAHN : Der Mann will Ruhe
Ein früher Dienstagmorgen in der U-Bahn. Verschlafene Körper schieben sich durch die Tür, bleiben in den Ecken stehen oder lassen sich auf die letzten freien Sitze fallen. Schon nach wenigen Sekunden verwandeln sie sich wie alle anderen in Nicht-Personen, vertieft in stumme Selbstgespräche. Ihre Augen sind geschlossen, zum Boden gerichtet – oder auf die Bildschirme. Dort ist eine Frau Mitte 50 zu sehen, die stolz von sich behauptet, sie sei die Wurstfachverkäuferin der Kanzlerin. Es ist still. Zu hören ist nur das Aufheulen des Motors, gefolgt von einem sonoren Dröhnen.
An der Gneisenaustraße wartet eine wimmelnde Horde von Kindern. Ihre roten Warnwesten leuchten im Einklang mit ihren Schreien, als sie in den Waggon strömen. „Erst aussteigen lassen, wie oft habe ich das schon gesagt!“, ruft eine Erzieherin. Ihre Gereiztheit wirkt routiniert – aber auch vergeblich. Der Mob hat das Abteil längst erobert. Einige Fahrgäste werden aus ihrem Halbschlaf gerissen und beginnen, die Szenerie zu beobachten. Drei Kinder springen ekstatisch in Richtung eines Vierersitzes und rempeln einen älteren Herrn an. Er, dessen Augenringe wirken wie Ruinen eines stressgeplagten Lebens, kann seinen Zorn gerade noch unterdrücken.
„Seid jetzt mal ruhig, wenigstens für fünf Minuten“, fleht ein um Autorität bemühter Erzieher mit Dreadlocks. „Der Mann da will seine Ruhe.“ Kurz darauf blicken sechs Augenpaare erwartungsvoll auf den alten Mann, der, seine Chance zur Ergreifung einer disziplinarischen Maßnahme witternd, sein Gesicht zu einer diabolischen Mine verzieht. Als wolle er sagen: „Die U-Bahn, ihr Kinder, ist kein Ort der Lebensfreude, hier wird geschwiegen, vielleicht gelesen, aber ganz bestimmt nicht gelebt.“ Doch der Mann schweigt. Als die Bahn weiterfährt, herrscht plötzlich eine verdächtige Stille. Die Stille einer Leistungsgesellschaft am frühen Morgen. PHILIPP RHENSIUS