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METAMORPHOSENZar und Zimmermann

■ Boris Jelzin im Angesicht der Quadratur des Kreises

Das internationale Parkett war immer frisch gebohnert, wenn Boris Nikolajewitsch Jelzin noch in seiner Eigenschaft als Führungsfigur der russischen Opposition den Sprung ins Ausland wagte. Man hatte es nicht zu seinen Ehren gewachst. Vielmehr hoffte man, daß er von selbst ausrutschte. Das tat er nicht, geriet aber immer kräftig ins Wanken. Ihn störte das nicht. Er erblickte sein gewaltiges Spiegelbild — das Feixen seiner Gegenüber übersah er geflissentlich. Er war sich seiner Sache sicher. Nicht, weil er über eine Heilsgewißheit verfügte, noch weil er die Geschichte philosophisch durchdrungen hatte. Er handelte aus Instinkt. Jahrzehnte als Apparatschik hatten ihn dem Volk nähergebracht — ein ungewöhnlicher Entwicklungsgang, eine magische Resistenz. Nun sitzt der charismatische Lider im selben Boot wie sein ehemaliger Widersacher Gorbatschow. Doch viel schlimmer. Was dieser halbbewußt betrieb — die Demontage der Partei, mit den ungeahnten Konsequenzen des Zerfalls des Imperiums —, das muß der russische Präsident jetzt generalstabsmäßig abfangen. Gorbatschow bekleidet zwar noch die Funktion des Präsidenten eines Torso-Reiches, aber seine Bedeutung ist reduziert auf die Erinnerung.

Jelzins Stern erleuchtet — und verblaßt

Nach den Augusttagen verblaßte auch Jelzins Stern. Mit dem Abgesang seines Vordermanns verlor auch er seine Orientierung. Das Bild der siamesischen Zwillinge schien sich zu bestätigen. Der Held offenbarte eine eklatante Führungsschwäche, nur das Volk sah es noch nicht. Aber die Mannschaft, die ihn im Weißen Haus umgab, übte sich schon wieder im Hader. Der Fraktionismus und der selbstvergessene Egoismus der russischen Intelligenz — das tragische Leitmotiv russischer Geschichte — fielen auch schon wieder über den Mann aus der Provinz her, der das Volk versteht, aber ansonsten nicht zu visionären Kräften neigt. Jelzin ging in Urlaub. Selbstgewißheit oder Zaudern?

Er kehrte zurück und präsentierte sich als das, was man schon immer befürchtet hatte: ein Herrscher mit autoritären Allüren. Vom Volksdeputiertenkongreß verlangte er Vollmachten, wie sie zuvor Gorbatschow eingefordert hatte. Dieser hatte sie erhalten, nur konnte er sie nicht nutzen. Jelzin untersagte das Wirken der Kommunistischen Partei auf dem Territorium der Russischen Föderation, und ein Aufschrei erhob sich, ob darin nicht schon wieder der Keim eines Autoritarismus läge? Dann schickte er Truppen in die abtrünnige Republik Tschetscheno-Inguschetien. Denn nach dem Zerfall des Makrokosmos UdSSR steht die nicht viel kleinere RSFR vor demselben Problem. Die Tschetschenen, Baschkiren, Tartaren und Jakuten vollziehen nach, was ihnen die Republiken vorexerziert hatten — den Ausstieg: Und sie werden nicht die Letzten sein.

Jelzin reagierte wie zu erwarten. Er war erbost und wußte sich keinen anderen Rat, als mit Gewalt zu drohen. Also hatte er nichts gelernt. Dafür erwies sich das russische Parlament als lernfähig und pfiff seinen Präsidenten zurück. Ein später Beweis kollektiver Weisheit, der zugleich die Befürchtung abschwächen mag, Rußland trete in die Fußstapfen des sowjetischen Imperialismus.

Dann kündigte der Präsident die längst überfällige Wirtschaftsreform an, buchstäblich im letzten Moment. Die Ausgangsbasis überzeugte durch ihre Ehrlichkeit. Er stieg allein in den Ring. Was nach außen so aussehen mag, als dränge es ihn nach Ämterhäufung, ist ein wagemutiger Schritt, der das lebende Denkmal Jelzin in die Tiefe reißen kann. Um die Wirtschaftsreform durchzuführen, übernimmt er auch die Kompetenzen des Premierministers, einen Sündenbock außer ihm wird es also nie geben. Und dem Volk verkündete er: Ihm stünde eine sehr harte Zeit bevor, Illusionen leiste er keinen Vorschub. Für einen russischen Politiker ist das eine unglaubliche Tat. Der Ausgang dieses Experiments ist mehr als ungewiß. Und diese Ungewißheit fördert zugleich etwas anderes zutage: Das Zögern einiger Republiken, sich auf eine Föderation einzulassen, beruht nicht allein auf dem Vorbehalt gegenüber den unbestrittenen Dominanzansprüchen des größeren Bruders. Vielmehr zeigt es, daß die nationalen Führungseliten — selbst nicht so fest im Sattel wie Jelzin in Rußland — es nicht wagen können, ihren Völkern eine derartige Roßkur zu verschreiben. Ihre Befürchtung ist nicht grundlos, sie würde das politische Aus noch schneller und heftiger ereilen.

Führt Jelzin die Reformen in der angekündigten Härte durch, gesellt er sich zum Totengräber der Union Gorbatschows. Ihr Schicksal bleibt weiterhin miteinander verknüpft. Noch versucht Jelzin, einen Teil des Unions-Vermächtnisses mit hinüberzuretten. Dabei offenbart er Züge eines Zauderers, wie zuvor Gorbatschow. Doch damit steht Jelzin vor einem ungeheuren Problem: Der Winter wird hart, und auch der Sommer wird noch verregnen, während seine Häscher Gewehr bei Fuß stehen. 70 Prozent der Gebietsfürsten der Russischen Föderation haben den Widerstand der Demokraten in Moskau im August nicht unterstützt. Jelzin tat das einzig Richtige: Er verbot die KP, schickte ihre Vollstrecker in die Arbeitslosigkeit und setzte Exekutoren von seinen Gnaden ein. Viele legten ihm das als einen Akt der Selbstherrlichkeit aus. Er handelte richtig, denn sie werden keine Chance ungenutzt lassen, den zu erwartenden Groll des Volkes zu kanalisieren und gegen die Reformer zu wenden.

Die offenbaren auf breiter Front ihre Verletzbarkeit. Sie sind unerfahren, selbstsüchtig, von ihrer Mission besessen. Doch andere gibt es nicht. Mit ihnen muß er es angehen. Jelzin steht vor der Quadratur des Kreises. Läßt der Erfolg der Reformen über das nächste Jahr hinaus auf sich warten, treten andere Kräfte auf den Plan. Wenn er daher an einem konföderativen Erhalt der Union festhält, dann sicher, weil er um die Brisanz des Nationalen und Chauvinistischen weiß. Die Identitätskrise Rußlands wächst von Tag zu Tag. Wo läßt sich anknüpfen, um den Menschen noch ein positives Selbstwertgefühl zu geben? Nach dem Scheitern des Putsches hatten es einige zurückgewonnen, aber es waren zu wenige, um darauf eine neue Identität zu begründen. Sie waren auf die Zentren begrenzt. Kommt diese Konföderation nicht zustande, dann muß Rußland Schlimmes befürchten. Über 25 Millionen Russen leben in anderen Republiken, deren ökonomische Lage nicht weniger katastrophal ist. Im Gegenteil. In der Talfahrt werden die Republikführungen dankbar die Russen zu Sündenböcken stempeln. Ein Massenexodus wäre gewiß, die russische Regierung sähe sich einer Flüchtlingswelle gegenüber, die sie aus eigenen Kräften gar nicht kompensieren könnte. Sozialer Neid würde wachsen, Fremdenhaß und russischer Fundamentalismus — ein Paradoxon — würden sich aus derselben Quelle speisen. Wenn Jelzin nationalistische Töne anschlägt, scheint er diese Konstellation vorauszusehen.

Noch ist es ein moderater Nationalismus, der auf den Erfolg der Prophylaxe baut. Wir kennen ihn aus der CDU- und ihrer Vertriebenen-Klientel. Doch welche Dimension besitzt angesichts dieser Konfliktlagen das Problem der Wolgadeutschen? Mäßigung stünde da gut zu Gesicht. Er komme zwar nicht als Bittsteller, betonte Jelzin, aber man erwartet einen Geschäftsmann hier. Dieser Bogen darf nicht überspannt werden, Hilfe muß gewährleistet werden, auch wenn das Gastgeschenk popelig ausfällt. Die DDR gab es schließlich für einen Appel und ein Ei.

Deutschland trägt die Last der Hilfe

Noch sind die Russen keine Geschäftsleute. Die Strukturen einer zivilen Gesellschaft kann man nicht einklagen, und sie erheben sich nicht einfach aus dem Chaos. Ablaßgelder reichen nicht. Es geht um gedankliche Aufbauhilfe, die dieser Gesellschaft neue Fundamente schafft, bevor es wieder zu spät ist. Das erwarten die Russen von Deutschland. Es wird mühsam sein und viel Enttäuschung hervorrufen. Kein Weg führt allerdings daran vorbei. Unterlassene Hilfe provoziert den Verletzten und ist übrigens ein Straftatbestand. Ob die Deutschen mit dieser Last alleingelassen werden, spielt vor der Geschichte keine Rolle. Klaus-Helge Donath

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